Kapitel 36

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In meinem Zimmer war es dunkel. Durch die Fensterscheibe konnte ich zu Jessicas Haus und auf Shanes leerstehendes Zimmer blicken, das mir in meiner Kindheit den ein oder anderen Grund zum Nachbarschaftskrieg gegeben hatte. Jetzt wünschte ich plötzlich, Shane würde noch dort wohnen, die Musik laut in die Nacht hinaus schallen lassen und sich darüber lustig machen, wie ich meine ganzen zwanzig Paar Socken gegen seine Fensterscheibe werfen würde.

Aber so war es nicht.

Stattdessen saß er auf meinem Bett und schwieg. Ich saß ihm gegenüber auf meinem Schreibtischstuhl und wartete darauf, dass er endlich den Mund aufmachte. Warum konnten Menschen nicht einfach gerade heraus sagen, was sie dachten? So viele Dinge wären einfacher. Aber Shane musste immer alles so lange in sich hineinfressen, dass ich fürchtete, er wusste überhaupt nicht mehr, wie man mit jemandem über seine Gefühle sprach. Deswegen brauchte ich das zwischen uns auch gar nicht anzusprechen. Was immer es gewesen war, Shane hatte es totgeschwiegen.

Eine Weile blieb ich noch an meinem Schreibtisch, sah Shane an und lauschte der Stille, die jetzt eingekehrt war.

Dann rollte ich näher an das Bett heran und traute mich, meine Hände auf seine zu legen. Er sah mich an und für einen Moment dachte ich, er würde sie wegziehen - aber er verschränkte seine Finger in meinen und strich mit seinem Daumen behutsam über meine Handfläche, als würde er ein Muster nachzeichnen, das nur er sehen konnte.

Als er wieder losließ, war das Kribbeln in meinen Fingerspitzen fort, aber Shane hatte sich zumindest entschlossen zu reden. Nach all den Jahren würde ich endlich erfahren, was wirklich zwischen Jessica und Shane vorgefallen war.

„Ich habe so oft mit dem Gedanken gespielt, dir davon zu erzählen. Im Hotel, im Stadium, selbst vorhin war ich kurz davor, aber-"

Shane unterbrach sich selbst und strich sich über die Knie, die in seinem Schneidersitz zu beiden Seiten abstanden.

„Aber ich glaube einfach, dass ich damit alles kaputt mache. Zwischen unseren Familien - zwischen uns beiden."

Zum ersten Mal hörte ich Shane überhaupt darüber sprechen, dass da etwas zwischen uns beiden war und ich würde gar nicht erst versuchen, abzustreiten, was diese Worte in mir anrichteten. Ein warmes Gefühl wie heißer Kakao im Winter floss durch meinen Magen und wärmte meinen ganzen Körper auf.

„Geht es überhaupt noch kaputter?" Ich schmunzelte, nur ganz leicht, auch wenn meine Frage nicht witzig gemeint war. Jessicas Familie war zerrüttet, alles war zusammengestürzt und die letzten Glassplitter und Betonfetzen, die von diesem Gebäude, das einmal ein Zuhause - eine Familie war, übrig blieben, waren verteilt über Wakefield, Brighton und Blackpool.

Was immer er auch sagte, schlimmer konnte es wohl kaum werden.

„Scheiße, warum ist das so schwer?", murmelte er in seine Hände, mit denen er sich über das Gesicht strich. Die Geste war für mich in den letzten Wochen so gewohnt geworden, dass ich manchmal vergaß, dass Shane es immer dann tat, wenn er gerade verzweifelt war. Er tat es viel zu oft.

Ich kniete mich vor ihn auf den Boden, damit ich in seine Augen sehen konnte und legte meine Hand an seine Wange. Vorsichtig hob ich sein Gesicht an, in dem mir die wohl schönsten Augen entgegenblickten, die ich jemals gesehen hatte. Selbst im trüben Licht meines Zimmers schienen sie bei jedem Blick eine andere Farbe zu haben.

Shane legte seine Hand auf meine, umfasste sie und zog sie von seiner Wange.

„Hör auf, Mara.", murmelte er. Unter anderen Umständen wäre ich vielleicht zutiefst verletzt gewesen, aber mittlerweile wusste ich, dass Shanes Abwehrmechanismus eingesetzt hatte.

lavendertea [beendet]Where stories live. Discover now