Kapitel 32

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„Shane!", rief ich. Mit stolpernden Schritten lief ich ihm hinterher, durch den Seiteneingang der großen Halle, an den Toiletten und der Bar vorbei, bis er durch eine weitere Tür ging, die in einen schmalen, menschenleeren Flur führte. „Warte!"

Der Junge in dem schwarzen Kapuzenpulli blieb stehen und drehte sich zu mir um. Ich schluckte den Katzeknäul großen Kloß in meiner Speiseröhre herunter. In mir brannte alles wie Feuer und ein nervöses Kitzeln wanderte von meiner feurigen Magengrube bis in meinen Hals.

„Was?", fragte er und blickte mich an. Seine Augen waren immer noch so eisig wie einige Stunden zuvor, als wir uns vor Jessicas Haus gesehen hatten, doch jetzt waren sie noch dazu rot und angeschwollen. Er hatte geraucht, mehr als nur Tabak.

Für einen Moment ließ er den Blick über mein silbernes Paillettenkleid schweifen, bevor er sich auf die Unterlippe biss und mich wieder ansah.

Ich stieß die heiße Luft in meinen Lungen laut aus und fuhr mir durch das Haar.

Das war doch alles scheiße! Was taten wir hier überhaupt? Ich sollte - ich wollte mich doch von ihm fernhalten. Ich musste mich von ihm fernhalten. Wie sollte ich jemals damit klarkommen, dass er seine Schwester umgebracht hatte?

„Ich- äh-", haspelte ich, fühlte mich plötzlich wieder wie das 13 jährige Mädchen, das sich nicht traute, Shane am Essenstisch nach dem Ketchup zu fragen. Mir fehlten für einen Augenblick lang die Worte.

„Hier.", sagte ich dann, zog das Bild aus meiner Handtasche und reiche es ihm. Seine Finger streiften meine, als er das Bild nahm und ein Blitz jagte durch meinen ganzen Körper. Ich zuckte zurück und schluckte, um den Knoten zu lösen, der mir schon die ganze Zeit wie ein lästiger Frosch im Hals saß. Shane bemerkte meine Reaktion und sah mir in die Augen. Ein Unwetter zog darin auf, auch wenn nichts in seinen Augen sich verändert hatte. Es war vielmehr der Blick, mit dem er mich ansah, der mich zu dieser Interpretation veranlasste und mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.

Einige Momente hielt er inne und ich war wie gefangen in seinem Blick. Ich wollte so unbedingt wegsehen, doch es war, als hätte er Ketten um mich gelegt, die mich gefesselt hielten. Ich war an Shane gefesselt, was auch immer ich tat. Ich wollte nicht, aber es war so. Was, wenn ich mich nie wieder von seinen Fesseln befreien konnte? Wenn er immer Teil meines Leben bleiben würde, der verkorkste Teil, den man jedem verschwieg, weil er sich nicht gut erzählen ließ? Die dunkle Vergangenheit.

Als Shane endlich den Blick von mir abwandte und auf das Bild sah, atmete ich erleichtert auf. Ich hatte die Luft angehalten, sein Blick hatte mir wortwörtlich den Atem geraubt. Mit seinem Finger fuhr er die Konturen von Charles Rollstuhl nach, vorsichtig. Ich hätte ihm so gern gesagt, was ich wusste, aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht zulassen, dass Shane wieder Kontakt zu Charles aufnahm, nicht nachdem, was er getan hatte. Eine Familie war schon zerstört und was, wenn dasselbe auch mit Charles Familie passieren würde?

„Ich hatte es, nicht Jessica. Es ist mir runtergefallen und ich wollte es reparieren lassen und dann habe ich es irgendwie vergessen und in meiner Sockenschublade versteckt und dann-"

Ich holte Luft.

„Danke.", sagte Shane, faltete das Bild und steckte es in seine Hosentasche.

War es das jetzt? Ich hatte ihm nichts mehr zu sagen und das war unser letztes Gespräch? Er war ausgezogen, er hatte sein Bild zurück und wenn er jetzt ging, wusste ich, dass wir nie wieder miteinander sprechen würden.

„Also dann.", sagte er, kratzte sich am Kopf und nickte.

„Also dann.", wiederholte ich, zögerlich, bevor ich meine Tasche schloss, die ich ordentlich über meine Schulter hängte und mich im Gang umdrehte. Mit einem letzten Blick zurück zu ihm tastete ich mich durch das Halbdunkel des leeren Flurs in Richtung der Musik, die immer noch leise zu hören war. Gerade spielte der DJ ein neues Lied an und als es ausgerechnet All in von Sun Airway war, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten und das salzige Wasser rann in einer glasigen Perle über meine Wange.

lavendertea [beendet]حيث تعيش القصص. اكتشف الآن