Kapitel 30

93 22 10
                                    

Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Mein Großvater meckerte von früh bis spät, meine Mutter schob einige Notfallschichten in der Apotheke und mein Vater schraubte in der Garage am Rasenmäher herum, obwohl der Schnee immer noch Zentimeter hoch im Garten lag. Mein Vater liebte seine Arbeit und jetzt über die Feiertage, wenn er Urlaub und nichts zutun hatte, wurde er ganz hippelig.

Ich dagegen konnte nicht mehr aufhören, an das zu denken, was Charles mir gesagt hatte. Sally war nicht seine leibliche Tochter gewesen und er war abgehauen, weil Jessica ihn betrogen hatte. Aber warum hatte sie das getan? Warum konnte sie nicht einfach akzeptieren, dass Charles keine Kinder mehr bekommen konnte? Dann gab es noch diesen mysteriösen Jungen, den Sally anscheinend gut genug kannte, um ihn mit zu ihrem Vater zu nehmen, den sie acht Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Und zu guter Letzt war da immer noch Shane, der einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden wollte, was ich auch tat.

Shane.

Wenn er nur die Wahrheit kennen würde, die ich kannte. Ich würde es ihm so gerne sagen, nur damit er wusste, dass es nicht seine Schuld gewesen war, dass Charles die Familie verlassen hatte. Nur um noch einmal das Funkeln in seinen graublauen Augen zu sehen und noch einmal den Geruch von Lavendel in mich aufnehmen zu können.

Ich wusste, was Shane getan hatte und trotzdem konnte ich ihn nicht hassen. Ich war gestört, vollkommen bescheuert, krank. Kein normaler Mensch liebte den Mörder seiner besten Freundin. Und doch fand ich Trost in der Erinnerung an ihn.

Ich brauchte dringend Ablenkung. Ablenkung war das einzige, was mir jetzt noch helfen konnte. Ich würde mich ja betrinken oder in einen Drogenrausch verfallen, wenn ich nicht wüsste, dass mich die Erinnerungen am Morgen danach mit einer Härte treffen würden, die mich vom Stuhl fegen würde. Deshalb hatte ich meine Lieblingsbücher gestapelt, um in den dicken Romanen zu versinken und erst wieder aufzutauchen, wenn Shane nichts als ein Name unter vielen war. Aber das funktionierte auch nicht, denn nach drei Sätzen sprangen meine Gedanken ganz von allein zurück zu ihm und den Dingen, die ich ihm eigentlich noch sagen wollte.

Die einzige Ablenkung, die nun also noch Erfolg versprach, war das Ausgehen mit meinen Freunden. Hätte Viola mich vor zwei Wochen gefragt, ob ich mit ihr auf die Neujahrsparty gehen würde, hätte ich vehement verneint. Jetzt kam so eine Party wie gerufen. Jede Menge Menschen, laute Musik und die Hoffnung auf einen Neuanfang im neuen Jahr. 2019 konnte mich wirklich am Arsch lecken und 2020 konnte nur besser werden. Was sollte es noch Schlimmeres geben? Der dritte Weltkrieg? Eine Zombieapokalypse? Eine Seuche?

Mit einem Seufzen klappte ich »Die Kinder des Kapitän Grant« von Jules Verne zu und legte es beiseite. Es war später Nachmittag und draußen würde bald die Sonne untergehen. In meinem Zimmer standen noch immer die vollgestopften Säcke mit Sallys Kleidung, die jede Ecke belagerten. Wenn ich die Säcke nicht bald rausbrachte, würde meine Mutter mir den Kopf abreißen, so viel war sicher.

Stöhnend quälte ich mich aus meinem Bett und rutschte in meine Hausschuhe. Die provisorisch mit einem Gummi zusammengebundenen Säcke griff ich links und rechts, schliff sie bis zum Treppenansatz und zerrte sie dann hinter mir her, bis ich unten angekommen war. Im Flur warf ich mir einen meiner Cardigans über, schlüpfte in ein altes Paar Sneaker und trat in die eisige Kälte. Bei jedem heißen Atemzug entstand eine Wolke aus warmer Luft vor meinem Mund und der Schnee knirschte unter laut meinen Füßen. Bei dem Geräusch wurden Erinnerungen an meine Kindheit wach.

„Pass auf!", schrie Sally und duckte sich unter einem Schneeball hinweg. Ich sah mich um und entdeckte Shane und Johnny hinter einer Mauer aus Schnee, beide mit zwei dicken Schneebällen in der Hand, die genau auf uns ausgerichtet waren. Gerade noch rechtzeitig wich ich zur Seite, dann flog der erste Ball durch die Luft und knallte gegen den Baum direkt hinter mir. Der kalte Schnee blieb an der festen Rinde hängen und mein Herz klopfte vor Aufregung ganz schnell. Na wenn das nicht knapp gewesen war! Shane kniff eifrig die Augen zusammen und formte einen neuen Schneeball, doch bevor er überhaupt genug Schnee gesammelt hatte, traf mich etwas hart am Kopf und warf mich zu Boden. Johnny grinste gehässig und fuhr sich durch das kohlrabenschwarze Haar.

lavendertea [beendet]Место, где живут истории. Откройте их для себя