Kapitel 22

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„Niemals, das ist vollkommen absurd. Wir sind hier in Wakefield, nicht in irgendwo in Detroit."

Eine halbe Stunde später saß ich noch immer eingewickelt in einer Decke auf meinem Bett. Viola hatte es sich mittlerweile neben mir bequem gemacht und schüttelte den Kopf über den Gedanken, dass Sally getötet worden sein sollte.

„Naja.", antwortete ich Viola, die die Stirn runzelte. Ich seufzte und zog das Tagebuch unter meiner Matratze hervor. Ungeöffnet blieb es in meinem Schoß liegen. In letzter Zeit hatte ich nicht wirklich viel Grund, Menschen zu vertrauen. Erst Sally und dann Oliver. Aber mit irgendjemandem musste ich das ganze Zeug, das momentan mein Leben durcheinander brachte, ja teilen. Die nächstbeste Wahl fiel dabei wohl auf Viola, die zwar ihre Ecken und Kanten hatte, aber praktischerweise sowieso schon zur Hälfte eingeweiht war.

„Okay, was ich jetzt tue werde ich vermutlich den Rest meines Lebens bereuen, aber ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich nicht mehr weiter weiß.", tastete ich mich vorsichtig an das Thema heran. Ich fühlte mich wie eine Witwe, die ihren Mann zwei Tage nach der Beerdigung mit seinem Todfeind betrog. Ausgerechnet Viola in Sallys Tagebuch gucken zu lassen war ein Hochverrat, für den man mich im Mittelalter noch gehängt hätte. Berechtigt.

„Was ist das?", fragte Viola neugierig und setzte sich ein wenig auf, damit sie auf das Buch in meinem Schoß schielen konnte. Ich seufzte. Das war keine gute Idee. Das Geräusch des Papiers beim Blättern erinnerte mich an meine Bücher, die ich über alles liebte. Nun glich mein Leben selbst einem billigen Roman und ich würde alles für ein wenig Normalität geben.

„Das ist Sallys Tagebuch.", begann ich. „Ich habe es Jessica, Sallys Mutter, mehr oder weniger geklaut und ganz vielleicht einen winzigen Blick auf die letzte Seite geworfen. Und...naja..." Ich hielt inne. Wenn ich es aussprach, konnte ich es nicht mehr zurücknehmen. Der Gedanke wurde erst mit dem Aussprechen so richtig real für mich.

„...es klingt irgendwie nicht so, als hätte Sally sich in nächster Zeit das Leben nehmen wollen."

Viola schwieg. Ich wusste nicht, ob sie es tat, weil sie überrascht war oder weil sie sich alles durch den Kopf gehen ließ, aber die plötzlich einkehrende Stille machte mich nervös. Ich hörte nichts als meinen eigenen, stockenden Atem.

„Also hat Sally sich nicht umgebracht und es war auch kein Unfall?", wagte Viola den Schluss zu ziehen, vor dem ich mich gefürchtet hatte.

Es sah wohl ganz danach aus. Ich nickte.

Diese Vermutung änderte alles. Sie drehte alles auf den Kopf, nichts, das ich wusste, war nun noch von Bedeutung und alles, was Shane und ich herausgefunden hatten, das hatten wir falsch gedeutet.

Wer hätte Sally umbringen sollen? Und wie? Sie hatte Tabletten geschluckt und war an einer Überdosis gestorben. Hatte jemand die Tabletten extra so platziert? Aber woran war sie dann wirklich gestorben?

Je mehr Fragen auf mich einströmten, desto schlechter wurde mir. Ich wollte weinen und schreien und den ganzen Mist einfach wieder vergessen. Ich wünschte Shane wäre nie nach Wakefield zurückgekommen, ich wünschte, ich hätte niemals dieses blöde Tagebuch gestohlen und vor allem wünschte ich mir, dass ich diese Ungewissheit, die mir tief in den Knochen saß, endlich hinter mir lassen konnte.

„Und jetzt?"

Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste nichts mehr, nur, dass ich das alles nicht mehr alleine auf meinen Schultern tragen konnte. Ich musste jemandem von allem erzählen. Ich sah zu Viola, dann zurück auf das Tagebuch und schließlich wieder zu Viola. Sollte ich...?

Ehe ich mich umentscheiden konnte, war mir der erste Satz schon rausgerutscht und alles was danach kam, sprudelte aus mir heraus, als wäre ein Damm gebrochen, der den Druck eines ganzen Ozeans tragen musste . Von der Beerdigung und dem Zusammenstoß mit Shane, von Sallys Kalender und diesem mysteriösen J., von unserer Abmachung, dem Trip nach Birmingham, von Grey Johnson und dem Geld, das er von Jessica bekam und schließlich von Jessicas Zusammenbruch auf unserer Couch und dem Tagebuch, das wie ein verfluchtes Relikt in meinem Schoß lag und nur darauf wartete, mir die nächste Katastrophe zu offenbaren.

lavendertea [beendet]Kde žijí příběhy. Začni objevovat