Kapitel 25

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Ich ging um das Haus herum und starrte verzweifelt nach oben. Meine Augen waren fest zusammengekniffen und ließen nur einen winzigen Spalt frei, weil es immer noch regnete. Der frische Wind ließ mich vor Kälte erbeben. Ich stemmte die Hände in die Hüften und schätzte. Bis zu meinem Fenster waren es gute drei Meter und die konnte ich mit meinem verstauchten Fuß bestimmt nicht nach oben klettern. Wie sollte ich jetzt nach Hause kommen, ohne meine Eltern zu wecken? Ich hatte ja nichtmal meinen Schlüssel dabei. Nur Shanes Schlüssel klimperten quietschvergnügt in meiner Jackentasche herum und erinnerten mich daran, wie dumm ich manchmal sein konnte. Ich legte bibbernd meine Arme um mich, als ich wieder zur Haustür humpelte und an dem Türknauf rüttelte. Nichts. Die Tür bewegte sich keinen Zentimeter, was nicht sonderlich verwunderlich war. Meine Mutter schloss nachts immer doppelt ab, seitdem vor Ewigkeiten mal in der Nachbarschaft eingebrochen und sämtlicher Goldschmuck geklaut worden war. Selbst das Gebiss mit dem Goldzahn hatten sie der armen Mrs. Hudson im Schlaf aus ihrem Essigglas geraubt.

Ich warf einen Blick zu Jessicas Haus und griff in der Tasche nach Shanes Schlüsseln. Ob der Haustürschlüssel noch passte?

Mit stechenden Schmerzen in meinem Bein humpelte ich zu dem Grundstück neben unserem und kämpfe mich den Vorsatz empor. Meine Turnschuhe waren mittlerweile bis zu den Socken mit Wasser vollgesogen und brauchten dringend eine warme Heizung,  meine Klamotten sowieso. Ich zog die Schlüssel hervor und steckte den ersten Schlüssel in Jessicas Haustür. Nein.

Ich probierte auch den zweiten und den dritten, bis nur noch einer übrig war. Der letzte. Mit verschwindend geringer Hoffnung küsste ich den Schlüssel und betete zum Himmel, dass er passen würde. Dann steckte ich ihn ins Schlüsselloch, drehte ihn und - die Tür sprang auf. Mein Herz machte einen erleichterten Satz und ich leuchtete mit meinem pitschnassen Handy auf die Kommode, wo Jessica für gewöhnlich ihre Schlüssel aufbewahrte. Ich rüttelte leicht an der alten Holzschublade, die ein quietschendes Knarzen von sich gab und biss die Zähne zusammen. Ich fühlte mich wie ein Verbrecher und dass Sally nur wenige Treppenstufen von mir entfernt gestorben war, beeinflusste mein Wohlbefinden nicht gerade positiv.

Blind tastete ich nach den Schlüsseln, als mich plötzlich eine Hand an der Schulter packte und herumwirbelte. Meinen Lippen entfloh ein überraschter Schrei, der sich wie Wellen im Raum ausbreitete.

„Du meine Güte, Mara!", flüsterte Jessica und fasste sich ans Herz. Ich atmete durch. Das war ja toll gelaufen.

„Wie bist du denn hier reingekommen?"

Ich schluckte den Schrecken herunter und kramte in den inaktiven Ecken meines Gehirns nach einer Ausrede, die Jessica von mir noch nicht zu hören bekommen hatte.

„Unser Ersatzschlüssel.", sagte ich. Jessica runzelte die Stirn und schaltete das große Licht im Flur an. Ich kniff die Augen zusammen und verdeckte mein Gesicht mit meinen Händen, als das grelle Licht mich traf. Das war ja nicht zum Aushalten.

Jessica wickelte ihren Schlafmantel enger um sich und zog den Gürtel zu. Ihre Haare steckten in einem zerzausten Dutt und ihre Augen waren durchfurcht von tiefen Augenringen, die ihr Gesicht seit Sallys Beerdigung nicht mehr verlassen hatten.

„Ich hab aus Versehen den falschen Schlüssel eingesteckt, als ich gegangen bin und jetzt komme ich nicht mehr rein. Wenn es dich also nicht stört, ich nehme mir nur kurz den Schlüssel und verschwinde gleich wieder.", sagte ich und griff in diesem Moment nach unserem Haustürschlüssel, den meine Finger glücklich umschlossen. Doch Jessicas magere Finger schnappten nach meinem Handgelenk und hielten mich zurück.

„Du warst bei ihm, nicht wahr? Ich kenne diese Art von Ausreden, meine Liebe, mein Sohn hat sie zu Genüge benutzt. Er hat keinen guten Einfluss auf dich. Er hat Sally ins Verderben gestürzt und wenn du nicht aufpasst, dann bist du die Nächste!"

lavendertea [beendet]Where stories live. Discover now