Kapitel 27

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Seit über sieben Wochen hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Ich dachte, mit der Zeit würde es besser werden, aber mein Herz zog sich immer noch krampfhaft zusammen, wenn meine Mutter oder mein Vater oder Viola ihn erwähnten.

Ich versuchte wirklich, nicht an ihn zu denken, aber plötzlich sah ich ihn in jedem Menschen, dem ich auf der Straße begegnete. In jedem Gesicht sah ich sein Lachen, in jedem Augenpaar das bewölkte Grau, das mich in seinen Bann gezogen hatte, ohne dass es mir bewusst geworden war. 

Viola sagte, das wäre normal, aber ich war mir da nicht mehr so sicher. Es war nicht nur, dass ich an seine Blicke oder seine Stimme dachte. Ich hörte, wie er sagte, dass er Sally getötet hatte und wie er mich angesehen hatte, als ich sagte, dass besser er gestorben wäre. Er hatte so verletzt ausgesehen, aber ich war auch verletzt. Wie reagierte man in so einer Situation? Wenn der Mensch, in den man sich langsam verliebt hatte, sich als etwas Fremdes, etwas Düsteres und ganz und gar nicht Liebenswertes herausstellte? Was sollte man da machen?

Ich hatte nichts getan. Ich hatte geschwiegen und keiner Menschenseele erzählt, was ich gehört hatte, nicht einmal Viola, die mich an diesem Abend vollkommen verwirrt auf der Veranda des Hauses gefunden hatte.

„Da bist du ja! Ich habe diesen Typen von Brents Geburtstag gefunden, er heißt-"

„Es spielt keine Rolle mehr.", hatte ich sie unterbrochen und das Thema damit an den Nagel gehängt. Wir hatten seitdem nicht mehr über Shane oder Sally geredet und wenn ich ehrlich war, wollte ich auch gar nicht mehr wissen, was genau es mit Sallys Tod auf sich hatte.

Ich schob meine Gardine zur Seite und blickte auf die Einfahrt. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel, legten sich sanft auf das grüne Gras im Vorgarten und blieben an der geschmückten Tanne hängen. Es schneite nur alle paar Jahre an Heiligabend und dass Sally diesen Schnee nicht sehen konnte, war nicht fair. Sie hätte hier sein sollen, ich hatte nie, nicht ein einziges Mal an ein Leben, ein Fest, ein Weihnachten ohne sie gedacht.

Der Geruch von Zimt und Butterkeksen stieg mir in die Nase, die meine Mutter in den letzten Wochen in Massen gebacken hatte. Jessica war heute auch gekommen und hatte meinem Vater und meinen Großeltern, die uns über die Feiertage besuchten, beim Schmücken des Baumes geholfen. Den ganzen Tag über lief diese quietschvergnügte Weihnachtsmusik, die bis hier hoch hinter meine verschlossene Tür drang und mir den letzten Nerv raubte. Selbst von Mums selbstgemachtem Truthahn hatte ich kaum einen Bissen herunterbekommen und ihren Yorkshire Pudding hatte ich nicht einmal angerührt. Weihnachten dieses Jahr fühlte sich nicht wie Weihnachten an. Der Zauber, der Geist der Weihnacht war weg. Nur Sallys Geist spukte noch durch dieses Haus und hinterließ Leere, wo früher einmal Magie gewesen war.

„Es ist okay, wenn du traurig bist. Das ist dein erstes Weihnachten ohne sie.", hatte meine Mutter gesagt. Wenn sie bloß wüsste, was mir noch alles auf der Seele lag.

Auf der Treppe ertönte nun Gepolter und ich hörte schon an dem Holzstock, der gegen das Geländer schlug, dass es Grandpa Edgar war. Ein leises Klopfen an meiner Tür bestätigte  die böse Vorahnung, dass er zu mir wollte.

„Ja?", rief ich und hob den Kopf, um zu sehen, was der alte Mann wollte.

Grandpa Edgar war ein buckeliger, verschrumpelter, mies gelaunter Mann, der gerne über seine Zeit im zweiten Weltkrieg redete. Es war zwar erst zwei Jahre alt gewesen, als der Friedensvertrag unterzeichnet worden war und die Deutschen kapituliert hatten, aber etwas Spannenderes war in seinem Leben nicht passiert. Ich fragte mich, wie Grandma Josephine es all die Jahre mit einem störrischen, alten, langweiligen Bock wie ihm ausgehalten hatte. Zum Glück kam Dad nach seiner Mutter, sonst hätte ich ihm heute ganz sicher keine meiner berühmt berüchtigten Tassen schenken können. Dieses Jahr war es ein Aufdruck aus dem Periodensystem.

lavendertea [beendet]Where stories live. Discover now