Kapitel 60

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Annähern: sich einer Sache anpassen und eine überwiegende Einstimmigkeit bringen

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„Ich habe einen Song geschrieben" erklang Jays Stimme erneut, „für einen ganz besonderen Menschen, der mindestens genauso gut, wie ich weiß, dass ich nicht singen kann, aber ich werde es trotzdem versuchen" mit einem Mal war ich sieben Jahre in die Vergangenheit zurück katapultiert.

Ben und ich saßen auf dem Sofa bei ihm Zuhause und schauten zum bestimmt 1000sten Mal „Ein Königreich für ein Lama" an. Wir liebten diesen Film einfach! Als plötzlich aus dem Garten die schiefe Stimme von Jay erklang.

Er zupfte an seiner Gitarre herum und musste auch noch seine Krächzende Stimme zum Besten geben, „You don't know how lovely you are". Er konnte einfach nicht singen und so würde es auch bleiben. Aber er sollte uns gefälligst in Ruhe lassen.

Ben und ich liefen in den Garten. „Jay, wir schauen gerade einen Film. Sei leise!" beklagte sich Ben bei ihm. „Ich übe gerade, damit ich bei X-Factor teilnehmen kann."

„Mit deinem Katzengeschrei kommst du nur als Lachnummer ins Fernsehen" sagte ich und lachte. Auch Ben stieg in mein Lachen ein. Nur Jays Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.

Ein schwarzhaariger Junge stand neben dem Tisch, auf dem Jay stand, und spielte eine Melodie, die ich nur allzu gut kannte.

Die Töne von „The Scientist" von Coldplay ertönten und ich bekam sofort eine Gänsehaut. Ich liebte dieses Lied, es war das einzige Lied, das ich mir so oft, wie ich wollte anhören konnte, ohne davon erschöpft zu werden.

Vor allem kurz nach dem Tod meiner Eltern hatte ich das Lied in Dauerschleife angehört, weil mein Dad es mir früher am Klavier vorgespielt und vorgesungen hatte.

Konnte das alles ein Zufall sein? Nein. Aber wieso machte er sich dann vor der ganzen Schule zum Deppen?

Jay biss sich kurz auf die Lippe, hob das Mikrophon zu seinem Mund und fing an zu singen:

„Ich sagte, ich wär' für dich da
Könntest immer zu mir kommen
Ich hab hier, bereits hier, versagt.
Tausend Versprechen,
die ich dir gab,
und kein einziges davon auch nur hielt.
Sag mir, was du dir wünscht,
Sag mir, was du fühlst
Oh, ich möchte zurück an den Anfang

Ich renne in Kreisen,
Suche mich selbst hier
Ich fühl' mich verloren, wie noch nie zuvor

Niemand sagte, es sei einfach,
Wir können das alles, doch nicht aufgeben.
Niemand sagte, es sei einfach,
Niemand sagte mir, dass es so schwer sein würde
Oh, ich möchte zurück an den Anfang.

Dein riesiges Herz,
deine neckenden Sprüche,
wie könnte ich das nur vergessen?
Ich hass' mich dafür, dass ich bin, wie ich bin
wissend, dass du mich, wie ein Puzzle zusammensetzt.
Bitte vergib mir!
Nimm meine Hand!
Und wir gehen zurück an den Anfang

Ich renne in Kreisen,
Suche mich selbst hier
Ich fühl' mich verloren, wie noch nie zuvor.

Niemand sagte, es sei einfach,
Wir können das alles, doch nicht aufgeben.
Niemand sagte, es sei einfach,
Niemand sagte mir, dass es so schwer sein würde
Oh, ich möchte zurück an den Anfang."

Die ganze Performance über hatte toten Stille in der Mensa geherrscht. Und wo jetzt der schwarzhaarige Junge die letzten Akkorde des Lieds spielte, hielt ich es hier drin nicht mehr aus. Es schien mir als würde mir die Luft zum Atmen ausgehen.

Ich sprang auf und floh aus der Mensa. Die Luft, die ich atmete, schien erst besser zu werden, als ich auf dem Parkplatz angekommen war. Ich stütze mich an meinem Auto ab und hielt meine Hand auf meine Brust, um mehr Luft zu bekommen.

Was sollte das? Was hatte sich Jay eigentlich gedacht? Spinnt er vollkommen, sich vor die ganze Schule zu stellen und so ein Lied zu trällern?

Unweigerlich war ich an vorletzten Sommer zurück erinnert:

„Troy kam mit zwanzig roten Rosen an das Haus von Ashley und hat sie um Verzeihung gebeten" erzählte Ben mir dem neusten Klatsch und Tratsch.

„Das ist viel zu romantisch! Ich kotze gleich" meinte ich und rümpfte meine Nase. „Was wolltest du denn von deinem Freund, wenn er sich entschuldigen will?"

Ich hob eine Augenbraue und überlegte für einen kurzen Moment. „Ich wollte etwas richtig peinliches, für ihn natürlich. Er soll sich vor der ganzen Schule blamieren. Er soll sich überwinden müssen. Jeder kann in einen Laden gehen und zwanzig Rosen kaufen" sagte ich mit einem Grinsen.

Tja, so viel musste man ihm lassen. Es war besser, als die zwanzig Rosen.

„Lily" seine Stimme war ganz weich und sanft. Ich stand noch immer mit dem Rücken zu ihm. Es herrschte einige Sekunden Stille, bis ich mich zu ihm umdrehte.

„Du kamst gestern nicht. Ich kann das verstehen, wirklich" er seufzte. „Es soll jetzt keine Ausrede kommen, weil das einfach nur lächerlich wäre. Es tut mir leid, es tut mir so unglaublich leid" Jays Stimme brach am Ende seines Satzes.

„Die Sache ist die; ich habe das letzten Sommer gesagt und das war einfach dumm. Ich muss auch ehrlich gestehen, dass ich nicht wusste, dass das Gespräch aufgenommen wurde" seine grünen Augen waren vollkommen auf mich fokussiert.

„Chloe kam vor drei Wochen das erste Mal auf mich zu und meinte, wenn ich nicht wollte, dass du davon erfährst, müsste ich nach ihren Regeln spielen. So kam auch der Kuss zustande" seine Augen hatten die Leuchtkraft verloren, die ich so bewundert hatte.

„Sie meinte, wenn ich sie jetzt nicht küssen würde, dann würde sie zu dir gehen und dir höchstpersönlich das Video geben. Ich wollte dir selbst von dem Video erzählen, aber ich habe nie den richtigen Zeitpunkt gefunden" seine Miene war ernst und ich konnte erkennen, dass er die Wahrheit sagte.

Ich vermisste Jay, ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sich wohl anfühlen musste, wenn Jay eine neue Freundin hätte. Und wenn ich ganz ehrlich war, liebte ich ihn. Ich konnte ihn nicht loslassen. Ich hatte Jay schon fast verziehen, ich wusste, dass er jedes seiner Worte ehrlich meinte.

„Ich hätte es niemals so weit kommen lassen sollen. Und ich weiß, dass selbst diese peinliche Aktion in der Mensa nicht meine Taten ungeschehen machen" er holte noch einmal tief Luft.

„Ich möchte dir nur sagen, dass es mir ernst ist. Ich möchte nur dich, niemand anderen. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen" murmelte er das Ende.

Seine Augen trafen auf meine und ich war von ihnen gefesselt – wie immer. Mein Herz begann, wie wild zu rasen.

„Mr. Jason Hemmingway, bitte in das Büro des Rektors" ertönte es durch die Lautsprecher. Jay seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch seine Haare. „Ähm, ja" murmelte er.

„Bekomme ich eine Umarmung?" murmelte ich laut genug, damit er es hören konnte. Er blinzelte und räusperte sich, „Willst du das?" fragte er unsicher.

„Würde ich sonst fragen?" grinste ich ihn an und auch auf seinem Gesicht erschien ein kleines Grinsen. Mit großen Schritten kam er auf mich zu und schlang seine Arme eng um meinen Körper.

Sofort atmete ich seinen bekannten, leicht herben Duft ein, seine Umarmung wärmte mich auf und fühlte sich, wie Heimat, an.

„Gib mir noch ein bisschen Zeit, um das Ganze zu verarbeiten" murmelte ich in seine Brust. „Natürlich, alle Zeit, die du willst, love" bei dem Kosenamen fühlte ich, wie es in meinem Bauch nur so kribbelte.

„Und eine Sache noch" ich drehte meinen Kopf, damit mein Mund näher an seinem Ohr war, „ich möchte nicht an den Anfang, wie du vorher gesungen hast" flüsterte ich in sein Ohr.

Augenblicklich wich jegliche Farbe aus seinem Gesicht und er schluckte schwer. „Lass uns von dort starten, wo wir schon zusammen waren."

Auf dem FeldWhere stories live. Discover now