Sechsundfünfzig

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Sechs Monate später.

„Und eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! Hoch das Bein, Solea! Wo ist deine Arabesque? Na los, hoch, hoch!". Madame Rouges Stimme donnerte in meinem Ohr, ebenso wie das Klopfen ihres Gehstocks und ihrer hohen Schuhe, als sie mit schnellen Schritten auf mich zukam.

„Eins, zwei, drei, vier! Ja, besser! Gut, Solea!", zufrieden nickte sie und ich musste leicht lächeln. Es wurde besser.

„Sehr schön, Solea. Wie ich sehe, hast du an deinen Pechés gearbeitet. Sie sind schon viel sauberer. Und eins, zwei, drei, Plié! Sehr gut, komm her!", sie drückte mit der Fernbedienung die Musik auf Pause und ich lief zu ihr.

Zufrieden klopfte sie mir auf die Schulter. „Das war sehr gut, Solea. Gute Arbeit. Wenn du so weiter machst, steht dem internationalen Wettbewerb nichts mehr im Weg.".

Ich strahlte sie glücklich an: „Danke, Madame Rouge.".

„Du musst nicht mir danken, sondern dir. Das ist dein Verdienst. Ich bin nur die Lehrerin.".

„Aber ohne Sie wäre ich niemals so gut, wie ich es jetzt bin.".

Madame Rouge lächelte leicht verlegen, dann wurde sie wieder ernst „Ich bin wirklich stolz auf dich, Solea. Nicht jeder hätte es geschafft, sich wieder bis nach oben zu arbeiten, nach all dem, was du durchgemacht hast.".

„Danke, Madame Rouge.".

„Und jetzt los, ab nach Hause mit dir. Du hast für heute genug geübt.".

Ich grinste, verabschiedete mich von ihr und verließ den Ballettsaal. Ich zog mich schnell um, schnappte mir meine Tasche und fuhr, nachdem ich einen kleinen Zwischenstop in einem Blumenladen gemacht habe, mit dem Fahrrad zum Friedhof. Gut gelaunt lief ich die Sandwege entlang bis zu einem mit Blumen übersäten Grab, auf dessen Grabstein Anna Gebacher stand. Ich setzte mich in Schneidersitz davor und legte den kleinen, bunten Blumenstrauß vor den Grabstein. „Hallo, Anna.", flüsterte ich und strich über den Stein. Ich habe mich immer gefragt, ob sich die Menschen, die mit den Verstorbenen an den Gräbern sprechen, nicht komisch vorkommen würden. Aber seit Anna gestorben ist, kann ich nachvollziehen, was sie dazu bewegt. Ihr Tod ist jetzt sechs Monate her und ich bin seitdem fast täglich zu ihr ans Grab gekommen. Es ist nicht so, dass ich mir einbilde, dass sie antworten würde oder so. Aber ich fühle mich einfach mit ihr verbunden und irgendwie habe ich auch den Glauben und die Hoffnung, dass sie mich sehen oder zumindest meine Anwesenheit spüren kann. Die Zeit nach ihrem Tod war sehr schwer für mich. Sogar noch schwerer, als die Zeit nach meiner Krebsdiagnose. Eine ganze Zeit lang fühlte ich mich, als hätte mein ganzes Leben keinen Sinn mehr. Ich fühlte mich leer und konnte mich nicht dazu überwinden, irgendetwas zu tun. Aber Zayn hat mir geholfen. Und Kayla. Und meine Familie. Sie alle waren für mich da, haben mir aber alle Zeit gelassen, um zu trauern. Und obwohl ich mir anfangs sicher war, dass ich nie wieder glücklich werden würde, wurde der Schmerz mit der Zeit weniger. Ich ging wieder zur Schule und zum Ballett. Und ich habe angefangen, Annas Grab zu besuchen. Es half mir, damit klarzukommen, dass sie nicht mehr da war. Und mit der Zeit tat es immer weniger weh. Es war nicht so, dass ich sie nicht mehr unendlich vermissen und dass ich nicht weiterhin um sie trauern würde, aber ich konnte jetzt wieder ihren Namen aussprechen, ohne in Tränen auszubrechen. Wenn ich jetzt an sie denke, dann überwiegen die positiven Erinnerungen an sie. Diese Erinnerungen verdrängen den Schmerz.

„Madame Rouge hat meine Penchés gelobt.", erzählte ich ihr und musste dabei vor Stolz lächeln. „Sie meint, ich sei wieder deutlich besser geworden. Und schau mal", ich strich durch meine Haare „Kayla hat eine neue Frisur bei mir ausprobiert.". Jetzt wurde mein Lächeln noch breiter. In dem letzten halben Jahr sind meine Haare nachgewachsen. Sie gehen mir jetzt wieder fast bis zu den Schultern. Der Arzt meinte, dass sie bemerkenswert schnell nachgewachsen sind. Ich hatte das Glück, dass der Haarausfall nach der Chemo nicht lange anhielt. Kayla hat mir die vorderen Haare nach hinten geflochten, was ziemlich cool aussah. In letzter Zeit sah sie sich immer Tutorials an und probierte die neuen Frisuren an mir aus, wofür ich ihr sehr dankbar war. Besonders viele Frisuren funktionierten zwar nicht, da sie noch so kurz waren, dass sie nicht alle in einen Zopf passten, aber Kayla war überraschender Weise wirklich begabt darin.

SunriseWhere stories live. Discover now