Einundzwanzig

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Ich lief den Flur entlang und beobachtete die tanzenden Schüler, bis ich an meinem ehemaligen Tanzsaal ankam. Madame Rouge unterrichtete dort gerade meinen alten Kurs, in dem ich tanzte, bis ich auf Einzelunterricht umstieg. Ich sah meinen ehemaligen Mitschülern und Freunden zu und wünschte mir nichts sehnlicher, als mit ihnen tanzen zu können. Als Madame Rouge den Unterricht beendete, wartete ich, bis alle Schüler den Saal verlassen haben, zog dann meine Straßenschuhe aus und lief zu meiner ehemaligen Lehrerin. Sie stand mit dem Rücken zu mir und sah aus dem Fenster. Ich lief leise näher und blieb einige Meter hinter ihr stehen. „Hallo, Madame Rouge.".

Meine Lehrerin zuckte zusammen und drehte sich ruckartig um. Als sie mich sah, lächelte sie mich an: „Solea!".

Sie kam auf mich zu und ehe ich mich versah, hatte sie mich in eine Umarmung gezogen.

Verdattert stand ich da. Das Lächeln war ja schon ein halbes Weltwunder, aber jetzt auch noch eine Umarmung?

Madame Rouge ließ mich wieder los und trat einen Schritt zurück: „Wie geht es dir, meine Liebe?".

„Ganz gut. Meine Mom hat Ihnen ja bestimmt erzählt, dass...".

Sie nickte eifrig: „Ja, sie hat mich angerufen, um das Training erst einmal abzusagen.".

Ich seufzte.

Sie nahm meinen Arm und zog mich an den Rand des Saals auf eine Bank.

„Ich freue mich, dich zu sehen.", sie setzte sich neben mich und reichte mir eine Wasserflasche. Dankbar nahm ich einen Schluck.

„Und Solea...", meine Lehrerin sah mich ernst an „ich muss mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Ich habe alle deine Symptome ignoriert und dich dazu gebracht, weiter zu tanzen. Das war nicht in Ordnung und es tut mir sehr leid.".

„Schon okay, es war nicht Ihre Schuld. Sie konnten ja nicht ahnen, dass hinter all dem Krebs steckte. Niemand konnte das ahnen.", beruhigte ich sie.

„Es ist meine Aufgabe als Trainerin, darauf zu achten, dass meine Schüler nicht zu weit über ihre körperlichen Grenzen gehen und dass sie ihre Gesundheit nicht vernachlässigen. Ich habe es ignoriert, als du meintest, dass es dir nicht gut ginge und sogar dann noch, als du schlecht Luft bekamst. Ich hatte nur deine Karriere im Kopf. Es tut mir leid.".

„Es ist okay, Madame Rouge.", tröstete ich sie. „Ich bin Ihnen für so vieles dankbar. Sie haben viel Zeit in mich investiert. Ohne sie wäre ich nie so weit gekommen.".

Sie lächelte: „Doch, das wärst du. Du bist eine ausgesprochen gute Tänzerin, Sol. Das habe ich dir nie gesagt, aber du bist wirklich einer der besten, die ich je hatte.".

„Danke, Madame Rouge.".

„Haben die Ärzte schon etwas gesagt, wann du wieder tanzen darfst?", fragte sie. Ich lächelte. Sie fragte nicht ob, sondern wann. Diese Zuversicht machte mir neuen Mut.

„Noch nicht. Aber hoffentlich bald.".

„Wenn du mich immer noch als Trainerin haben möchtest, dann bin ich selbstverständlich gerne bereit, weiterhin mit dir zu üben.".

Ich lächelte: „Danke, Madame Rouge.".

„Natürlich. Wir werden uns langsam steigern und dich wieder zu der Tänzerin machen, die du mal warst. Und-", sie verstummte, als plötzlich ein lautes Stimmengewirr erklang. Vor der Tür hatte sich bereits der nächste Tanzkurs versammelt.

„Ich möchte Sie nicht weiter aufhalten.", schnell stand ich auf und gab meiner Trainerin die Hand.

„Es freut mich, dass du mich besucht hast, Solea.".

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