Einundfünfzig

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Am nächsten Tag fielen die ersten beiden Stunden aus, wofür ich ziemlich dankbar war, denn so konnte ich noch ein bisschen mehr Schlaf nachholen. Als ich dann zur dritten Stunde im Unterricht saß, war ich schon viel ausgeschlafener und besser gelaunt. Das dämpfte sich jedoch schlagartig, als plötzlich mitten im Unterricht mein Handy vibrierte. Ich zog es aus der Tasche und sah auf das Display. Anna. Warum rief sie mich vormittags an? Sie wusste, dass ich in der Schule war. In meinem Bauch machte sich ein ungutes Gefühl breit. Wenn es nicht wichtig wäre, dann würde sie nicht anrufen. Was ist, wenn etwas passiert ist? Ich stand so ruckartig auf, das mein Stuhl mit einem lauten Krachen nach hinten fiel. Meine Mitschüler sahen mich erschrocken an und meine Lehrerin schnappte überrascht nach Luft: „Solea? Ist alles in Ordnung?".

„Entschuldigung, ich muss.... ich... ganz kurz.", ich nahm mein Handy und verließ mit schnellen Schritten den Raum.

„Anna?", fragte ich in mein Handy, nachdem ich den Anruf angenommen habe „Ist alles okay?".

Anna antwortete nicht. Ich hörte nur ein Rauschen. „Anna?", fragte ich wieder „Anna, hörst du mich?".

„Solea.", die Stimme gehörte nicht Anna. Sie gehörte ihrer Mom.

„Oh... oh mein Gott, ist etwas passiert?", fragte ich alarmiert „Wo ist Anna?".

Ihre Mom schluchzte: „Sie... sie ist im Krankenhaus.".

Ich griff mit meiner freien Hand nach dem Geländer, weil ich befürchtete, jeden Moment umkippen zu können.

„Sie hat heute Nacht Fieber bekommen und ist ohnmächtig geworden.", die Stimme ihrer Mom zitterte ängstlich. „Ich... ich dachte, du würdest es wissen wollen...".

Ich nickte hastig, obwohl sie es natürlich nicht sehen konnte: „Ja, danke. Ich... ich komme sofort.". Ich legte auf, rannte zurück in den Klassenraum und schnappte mir meine Tasche und meine Jacke. „Solea! Wo wollen Sie denn hin?!", rief mir meine Lehrerin hinterher, aber ich ignorierte sie und rannte so schnell ich konnte aus dem Schulgebäude.

******

Ich glaub ich bin die Flure des Krankenhauses noch nie so schnell entlang gerannt wie jetzt. Zu meinem Pech war Anna nicht in dem Zimmer, in dem sie sonst war, weshalb ich erst im Schwesternzimmer nach ihrer Nummer fragen musste. Als ich ihr Zimmer dann endlich gefunden habe, riss ich ohne anzuklopfen die Tür auf.
Die erste Person, die ich sah, war Annas Mom. Sie stand direkt neben dem Bett und hielt ihre Hand. Als ich zur Tür reinkam, drehte sie sich zu mir um und lächelte mich matt an. Ihr Dad stand auf der anderen Seite des Betts und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. „Hallo.", begrüßte ich die beiden leise und trat zu ihnen. Anna lag in ihrem Bett, ihre Haut war fast so weiß wie die Krankenhausbettwäsche, nur die knallrote Stoffmütze auf ihrem Kopf bildetet einen starken Kontrast, wie frisches Blut im Schnee. Als sie mich sah, fingen ihre Augen an zu glänzen: „Sol! Schön, dass du da bist.".

Ich kam zu ihr und nahm ihre Hand: „Natürlich bin ich da. Ich bin immer für dich da.".

„Wir... wir lassen euch zwei kurz allein.", flüsterte ihre Mom und griff nach der Hand ihres Mannes. An ihren geröteten Augen und der leicht verwischten Schminke konnte ich erkennen, dass sie bis eben noch geweint haben muss. Auch ich musste mir Mühe geben, die Tränen zu unterdrücken. Ihre Eltern verließen den Raum und schlossen die Tür hinter sich. Ich setzte mich zu Anna auf ihr Bett und lächelte sie aufmunternd an. Ich wusste nicht so ganz, was ich sagen sollte, deshalb schwiegen wir beide einige Sekunden. Die Frage wie es ihr ging, konnte ich mir sparen, denn selbst ein Blinder würde erkennen, dass es ihr definitiv nicht gut ging.

„Mom ist furchtbar traurig.", sagte Anna nach einer Weile des Schweigens. „Es tut mir so leid, dass es ihr meinetwegen so schlecht geht.".

„Ach Anna. Dafür kannst du doch nichts.". Ich verstand sehr gut, wie sie sich fühlte.

SunriseWhere stories live. Discover now