Fünfzehn

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„Solea!", rief der Arzt fröhlich, als er in das Sprechzimmer platzte. „Wir haben gute Neuigkeiten!".

Sofort richtete ich mich auf. Gute Neuigkeiten konnte ich wirklich gebrauchen.

„Die Chemotherapie zeigte bemerkenswerte Ergebnisse.", er zückte sein Klemmbrett und hielt es mir hin. Keine Ahnung warum, denn ich verstand eh nichts von dem, was da drauf stand. Bemerkenswert? Bemerkenswert gut oder bemerkenswert schlecht?

„Dein Trachealkarzinom in der Luftröhre hat sich etwas zurückgebildet. Es haben keine weiteren Metastasen gestreut, so wie wir es befürchtet hatten. Ich kann mit ruhigen Gewissen sagen, dass wir dich entlassen können.".

Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was er sagte. Als ich es verstand, hätte ich ihm am liebsten umarmt. Also definitiv bemerkenswert gut. „Heißt das, mein Krebs ist weg?".

„Nein, das heißt es nicht.", erklärte er und dämpfte damit meine Euphorie ein wenig. „Aber das bedeutet, dass wir momentan keine weitere Chemo ansetzen müssen. Es besteht kein Risiko, dass du ersticken könntest. Wir geben dir einige Medikamente mit, die du umbedingt regelmäßig zu dir nehmen musst. Dein Immunsystem ist geschwächt. Du wirst dich von allen Krankheitserregern fernhalten müssen. Das bedeutet für dich, dass du noch nicht wieder zur Schule kannst. Du wirst dich noch schonen müssen. Vorerst hast du auch noch ein Sportverbot, das heißt auch kein Tanzen! Nach und nach werden wir immer wieder Untersuchungen anordnen, bei dem wir den Tumor kontrollieren. Wichtig ist, dass du bei dem kleinsten Anzeichen einer Erkältung sofort zu uns kommst. Jeder Schnupfen kann für dich im Moment gefährlich sein.".

Ich stand auf und unterdrückte das Bedürfnis, ihn zu umarmen. „Ich danke Ihnen, vielen vielen Dank!".

„Ich freue mich sehr für dich, Solea. Morgen früh erkläre ich alles deinen Eltern und wenn sie nichts dagegen einzuwenden haben, können sie dich mitnehmen.".

„Ich sag ihnen bescheid.", versprach ich und schüttelte die Hand, die er mir entgegen hielt. Dann drehte ich mich um und verließ das Sprechzimmer.

Anna freute sich sehr für mich. Ich hatte ein bisschen Sorgen, dass sie negativ reagieren würde. Klar, sie war ein bisschen traurig, dass ich nicht mehr bei ihr wohne und sie wieder alleine ist, aber ich versprach ihr, sie regelmäßig zu besuchen, was ich ja sowieso musste, weil mir der Arzt alle drei Wochen einen Kontrolltermin gab. Ich rief gleich meine Eltern an und natürlich Kayla, die ebenfalls ganz aus dem Häuschen war. Mit Zayn hatte ich mich sowieso verabredet, er kam zwei Stunden später und freute sich wie ein kleines Kind an Weihnachten. Anna half mir, meine Sachen zu packen und erlaubte mir sogar, die Perücke mitzunehmen. Ich war ihr sehr dankbar für alles.

Ich konnte kaum schlafen, so sehr freute ich mich auf zu Hause. Am nächsten Morgen kamen meine Eltern und während sie mit dem Arzt sprachen, verabschiedete ich mich von Stephan und der Gruppe. Und obwohl ich sie alle noch nicht lange kannte, wusste ich, dass ich sie vermissen würde. Aber jeder einzelne freute sich für mich. Ich habe damit gerechnet, dass sie vielleicht ein bisschen eifersüchtig sein könnten. Einige von ihnen sind seit Monaten im Krankenhaus und ich werde schon nach der ersten Chemotherapie wieder entlassen. Aber niemand war eifersüchtig. Zumindest zeigte es niemand.
Ich war total aufgeregt, als ich mit meinen Eltern im Auto saß und nach Hause fuhr. Ich durfte zwar nicht wieder in die Schule und auch nicht tanzen, aber ich hatte wieder ein Stück Normalität zurück. Zum Beispiel mein Zimmer.

Es sah genau so aus, wie ich es verlassen hatte. Und das war auch gut so. Denn so hatte ich nicht das Gefühl, als wäre das Leben ohne mich weitergegangen. Es lagen Klamotten auf dem Boden, mein Schreibtisch war voller Schulbücher und mein Schminktisch war durcheinander, weil ich mich noch geschminkt habe, bevor ich zur Party gegangen bin. Es war, als wäre ich nie weg gewesen. Ich setzte mich auf mein Bett und seufzte. Ich fühlte mich gut. So gut, dass ich fast das Gefühl hätte, meine Zeit im Krankenhaus wäre nur ein böser Traum gewesen. Aber wenn ich die Perücke abnahm und in den Spiegel sah wusste ich, dass es wirklich geschehen ist.
Und am nächsten Morgen, als Grayson zur Uni, Julie zur Schule und meine Eltern auf Arbeit gingen, wusste ich es wieder. Denn ich war diejenige, die allein zu Hause rumsaß. Meine Eltern arbeiten beide bis siebzehn Uhr. Grayson ließ sich vor dem Abendbrot nie blicken. Julie war die erste, die nach Hause kam, ihre Schule endete 14:30 Uhr. Kayla und Zayn hatten beide bis 16 Uhr Schule. Zayn kam jeden Nachmittag vorbei, Kayla jeden zweiten. Aber bis dahin war ich allein. Die ersten drei Tage war es noch schön, fast den ganzen Tag sturmfrei zu haben. Ich lief im Schlafanzug rum und aß Schokoladeneis vor dem Fernseher, da ich meine Ernährung zu Beginn meiner Krankheit eh aufgegeben hatte. Am vierten Tag wurde mir schon langweiliger. Am fünften Tag räumte ich vor lauter Langeweile mein Zimmer auf, am sechsten Tag sogar die von Grayson und Julie, was die beiden gar nicht witzig fanden. Am siebten Tag kramte ich ein altes Rezeptbuch aus dem Keller und beschloss, Kekse zu backen. Es ist vielleicht schwer vorzustellen, aber ich habe noch nie gebacken. Zum einen lag es daran, dass ich laut Madame Rouges Ernährungsplan keine Kekse essen durfte. Zum anderen hatte ich nie Zeit. Selbst zur Weihnachtszeit trainierte ich jeden Tag. Aber während meiner Zeit im Krankenhaus habe ich meine strenge Ernährung aufgegeben. Ich habe anfangs versucht, mich nur von den gekochten Frühstückseiern zu ernähren, aber wie ich feststellen musste, gab es die nur an Wochenenden. Ich bekam zwar Annas Eier auch noch, aber es war trotzdem schwierig, sich eine Woche lang nur von vier Eiern zu ernähren. Der Art drohte mir, dass er mir eine Sonde legen würde, wenn ich nicht anfangen würde, normal zu essen. Und das wollte ich nicht. Also aß ich. Und ich aß zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder ein Nutellabrötchen. Halleluja, ich hatte vergessen, wie gut das war. Meine Ernährung hielt mich jetzt also nicht mehr davon ab, den Ofen vorzuheizen und mir aus dem Buch ein Rezept für Schokoladenkekse rauszusuchen. Und Zeit hatte ich auch. Mehr als genug. Ich machte mich daran, den Teig für die Kekse zu machen, aber das war durchaus schwieriger, als ich dachte. Es kostete mich fünf Eier, bis ich es geschafft habe, ein Ei so zu trennen, dass ich nur das Eigelb verwenden konnte. Und die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld. Ich musste unbedingt aufräumen, bevor meine Mutter wiederkommt. Zufrieden schob ich das Backblech in den Ofen, als es an der Tür klingelte. Erschrocken sah ich in den bodenlangen Spiegel im Flur. Ich sah furchtbar aus. Auf meiner Schürzte klebte Ei und in meiner Perücke hatte sich Mehl verfangen. Es klingelte wieder. Ich warf wenigstens noch schnell einen zweiten Blick in den Spiegel, um zu kontrollieren, dass die Perücke gerade saß und riss dann hektisch die Tür auf. Vor mir stand Zayn. Erleichtert atmete ich aus: „Ach Gott sei dank, du bist es nur.".

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