Siebenundvierzig

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„Wisst ihr, was ich sehe? Ich sehe eine Familie, die sich gegenseitig beschützen will."

Doktor Hegers deutete auf meine Mom: „Sie möchten Ihre Tochter beschützen. Vor der Krankheit. Vor dem Tod. Aber Sie wissen nicht wie und versuchen es immer und immer weiter und mit immer mehr Kraft. Aber in Wirklichkeit wissen Sie selbst, dass es Ihnen nicht gelingen wird. Sie können Ihre Tochter nicht beschützen. Und das macht Ihnen Angst.".

Ich brachte es kaum über mich, sie anzusehen. Sie weinte schon wieder. Es zerbrach mir fast das Herz, dass sie meinetwegen so litt.

„Und Sie...", die Therapeutin sah zu meinem Dad „Sie versuchen ebenfalls Solea zu beschützen. Aber Sie wissen auch, dass es Ihnen nicht gelingt. Und Sie möchten Ihre Frau schützen. Sie haben einerseits die klare Erkenntnis, dass es nichts gibt, was sie tun können, aber anderseits möchten Sie weiterhin hoffen. Für Solea. Für Ihre Frau. Und für Ihre anderen Kinder. Und das ist gut so.".

Jetzt sah sie zu Grayson: „Du beschützt deine Familie auch. Du versuchst, mit deiner Mom zu reden, dass sie Solea mehr Freiraum gibt. Du versuchst, mit Solea zu reden, dass sie eurer Mom mehr Verständnis entgegen bringt. Du bittest deinen Dad, sich mit deiner Mom zu vertragen, wenn sie sich gestritten haben. Du tust alles, um deine Familie zusammenzuhalten.".

Ich sah meinen Bruder dankbar an. Er hat mit mir gesprochen, das stimmt. Aber ich wusste gar nicht, dass er mich auch vor Mom in Schutz genommen und Dad überredet hat, sich zu vertragen.

„Und du Julie, du willst auch deine Eltern beschützen. Du willst ihnen nicht mehr Sorgen bereiten, als sie ohnehin schon haben. Du stellst ihre Bedürfnisse über deine eigenen. Das ist heldenhaft von dir, aber das hält du nicht lange durch. Das macht dich unglücklich. Und niemand will, dass du unglücklich bist.".

Julie zögerte. Dann nickte sie vorsichtig und zum ersten Mal sah sie mich an. Sie lächelte. Und erleichtert lächelte ich zurück.

„Und du Solea.", jetzt sah Doktor Hegers mich an „Du beschützt alle, nur nicht dich. Du denkst, du bist Schuld an dem Leid der Anderen. Du bist schuld, dass deine Mom sich Sorgen macht. Dass sie und dein Dad sich so oft streiten. Dass Grayson so gestresst ist und sich auch Sogren macht und deshalb in der Uni nicht gut mitkommt. Dass Julie nicht genug beachtet wird und sich unsichtbar fühlt. Du denkst, du bereitest allen nur Angst und Sorgen. Aber das bist nicht du, Solea. Das ist der Krebs. Der Krebs ist schuld.".

„Aber ich bin diejenige, die Krebs hat.", schluchzte ich „Also bin ich schuld.".

„Nein. Du bist nicht der Krebs. Du bist Solea. Denk immer daran.".

„Aber...", begann ich, doch ich wurde von meiner Mom unterbrochen „Nein, Sol. Doktor Hegers hat recht. Du bist nicht schuld. Das wissen wir alle, stimmt's?". Sie sah die anderen an. Dad und Grayson nickten heftig, Julie zögerte, doch dann nickte sie auch: „Mom hat recht. Es tut mir leid, dass ich so eifersüchtig war.".

„Du musst dich nicht für deine Gefühle entschuldigen, Julie.", erklärte die Therapeutin „Niemand von euch muss das.".

Ich sah meine Familie an. Mom sah irgendwie erleichtert aus. Als wäre ihr ein großer Stein vom Herzen gefallen. Dad wirkte auch zufrieden. Julie lächelte. Und Grayson... na ja. Er war eben Grayson. Besonders viele Emotionen hatte er glaube ich nicht. Zumindest konnte er sie immer gut verbergen.

******

Die Therapie dauerte noch eine ganze Stunde, in der wir das „Glücks-Monster" öffneten und unsere Wünsche und alles, wofür wir dankbar waren auswerteten. Auch hier ähnelten sich unsere Zettel. Dann mussten wir gemeinsam Lösungen finden, um diese Wünsche zumindest etwas zu erfüllen. Natürlich kann mich niemand gesund hexen, aber Doktor Hegers hatte trotzdem ein paar „Hausaufgaben" für uns, durch die wir wieder „besseres Familienklima", wie sie es nannte, herstellen sollten. Jeden Sonntag findet jetzt ein Montages-Familien-Spiel-und-Spaß-Abend statt. Und wir müssen jetzt jeden Morgen und jeden Abend gemeinsam essen. Früher haben wir das auch schon immer so gemacht, aber irgendwie haben wir damit aufgehört. Ich kam abends oft viel später nach Hause, weil ich noch beim Training war, Grayson verschlief oft das Frühstück, wenn er erst mittags in die Uni musste und Dad musste häufig schon sehr früh auf Arbeit. Aber jetzt gab es feste Zeiten, an denen wir zu Hause am Tisch sitzen müssen. Abgesehen von Mom fanden wir das alle ziemlich öde. Um das ganze etwas „lustiger" zu gestalten, bekommt jeder von uns einen Joker pro Woche, das heißt, er kann eine gemeinsame Mahlzeit ausfallen lassen.

SunriseWhere stories live. Discover now