Vierundvierzig

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Der Raum, den die Therapeutin und ich nun betraten,  war deutlich kleiner als das Wohnzimmer, aber nicht weniger gemütlich. In der Mitte befand sich ein runder Glastisch, auf dem ein Strauß bunter Tulpen und eine Schale voller Bonbons stand, rings herum vier bequeme, bunte Sessel, ein roter, ein gelber, ein blauer und ein grüner. Doktor Hegers setzte sich auf den gelben und ich mich ihr gegenüber auf den roten Sessel, dann zückte sie wieder ihr Klemmbrett und ihren Stift und lächelte mich aufmunternd an: „So, Solea. Fangen wir erst einmal bei dir an. Wie alt bist du denn?".

„Siebzehn.", antwortete ich knapp und ließ meinen Blick interessiert durch den Raum wandern. So quietschbunt wie er eingerichtet war, hätte er auch durchaus in einen Kindergarten oder in eine Babykrabbelgruppe gepasst.

„Und du hast die Diagnose Luftröhrenkrebs bekommen?".

Ich nickte und sah skeptisch zu der Therapeutin. Warum strahlte sie denn immer noch über das ganze Gesicht? Sind wir die ersten Patienten, die sie seit Jahren hat? Als Therapeutin musste man wahrscheinlich immer nett und freundlich lächeln, aber dieses Dauergrinsen ging mir verdammt auf die Nerven.

„Und jetzt? Wie geht es dir jetzt? Bekommst du zur Zeit noch Chemotherapie? Wohnst du jetzt wieder zu Hause? Gehst du wieder zur Schule?".

„Ja, ich hab die Chemo beendet, darf wieder zur Schule und seit etwa zwei Monaten darf ich auch wieder tanzen.".

„Tanzen?", sie sah mich fragend an „Was tanzt du denn?".

„Ballett.", antwortete ich und merkte, wie ich dabei lächelte. Wie immer, wenn ich über das Tanzen sprach, wurde mir ganz warm ums Herz. Das schien auch Doktor Hegers aufzufallen. „Wie lange tanzt du denn schon?".

Ich lächelte und fing plötzlich an zu erzählen: „Eigentlich schon immer. Im Kindergarten in einer Kinderballettgruppe. Als ich in die Schule kam, bin ich einem Verein beigetreten. Und dann habe ich angefangen, professionell zu tanzen. Ich bekam Einzelunterricht und hab bei Wettkämpfen und so mittgemacht.", ich seufzte und meine Stimme wurde leiser „Mein Traum war immer, an die Kompanie zu kommen. Und ich war schon so weit. Ich hätte bei dem weltweit wichtigsten Ballettwettbewerb mitmachen können. Das wäre meine Chance gewesen. Aber jetzt... jetzt kann ich es vergessen.".

„Wieso denkst du das?", fragte sie und ich merkte, wie mich ihre Frage sauer machte. Ja warum wohl?! Weil ich Krebs habe!
„Ich tanze jetzt wieder, allerdings nicht so gut, wie vor der Diagnose. Ich bin quasi einige Schritte wieder rückwärts gegangen.".

„Und du denkst, du schaffst es nicht wieder dorthin, wo du einmal warst?", fragte sie interessiert. Verärgert zuckte ich mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Ich versuche es auf jeden Fall.".

Doktor Hegers notierte sich etwas auf ihrem Klemmbrett und sah mich dann wieder an: „Wie hast du dich gefühlt, als du die Krebsdiagnose bekommen hast?".

Ich sah sie stumm an. Was sollte ich denn darauf antworten?! Gut bestimmt nicht.

„Kein Ahnung...", wich ich die Frage aus.

„Du weißt es nicht? Doch. Du musst es wissen. Was hast du gefühlt? Welche Gedanken hattest du?".

Ich zuckte wieder mit den Schultern.

„Warst du glücklich? Froh? Erleichtert?".

Ich sah sie fassungslos an: „Nein, natürlich nicht!".

„Wie hast du dich dann gefühlt?", fragte sie weiter.

„Keine Ahnung!", wiederholte ich.

„War es dir egal? Kümmert es dich nicht weiter?".

SunriseWhere stories live. Discover now