Dreißig

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Dieses mal lief ich den Flur nicht wie ein Honigkuchenpferd entlang, sondern eher wie ein nasser Pudel. Oder ein ausgesetzter Welpe.

„Solea, deine Freundin hat Leukämie im Endstadium. Sobald die Infektion abgeheilt ist, werden wir sie entlassen, damit sie noch ein paar schöne Wochen bei ihrer Familie verbringen kann." Die Worte des Arztes wiederholten sich in meinem Kopf immer und immer wieder, wie ein Echo. Ein paar Wochen. Was waren denn ein paar Wochen? Zwei? Drei? Zehn? Ich weiß, dass Anna schon seit Jahren gegen den Krebs kämpft. Und mir war auch bewusst, dass sie in einem weit fortgeschrittenem Stadium ist. Aber im Endstadium? Als meine Mom und ich nach Hause fuhren, war es verdammt still im Auto. Ich hatte ihr von Anna erzählt und daraufhin ist sie fast in Tränen ausgebrochen. Ja, sie. Nicht ich. Mir war auch nach Weinen zu mute, aber ich war wie leer. Ich hatte wahrscheinlich die ganze letzte Woche zu viel geweint. Zu Hause lief ich monoton die Treppe hoch in mein Zimmer und ließ mich aufs Bett fallen. Ein paar Wochen. Mehr Zeit hatte sie nicht mehr. Ich starrte nach oben an meine weiße Zimmerdecke. Das Leben war nicht fair.

Plötzlich hörte ich ein verlegenes Räuspern neben mir und schreckte hoch. Zayn saß in meinem Sessel und sah mich zerknirscht an. Ups, den hatte ich ja ganz vergessen.

Schnell richtete ich mich wieder auf.

Besorgt sah er mich an: „Bitte sag, dass es keine schlechten Nachrichten gab.".

Ich schüttelte den Kopf: „Nein, also doch, aber... nicht für mich. Also theoretisch schon für mich, aber nicht... über mich.".

Klang das sinnvoll? Ich war mir nicht sicher. Zayn scheinbar auch nicht.

„Der Arzt hat gesagt, mein Krebs ist weit zurückgegangen.", klärte ich ihn auf „Ich darf sogar wieder anfangen zu...", ich wurde leiser und fügte ein zögerliches „tanzen" dazu. Immerhin war einer der Gründe, warum wir uns getrennt haben, der, dass ich durch das Tanzen wenig Zeit hatte.

„Aber das ist doch super! Das freut mich für dich.", lächelte er aufrichtig. „Aber warum bist du dann so traurig?".

Ich seufzte. Offensichtlich habe ich nun schon die gleiche Angewohnheit wie mein Arzt. „Anna geht es nicht gut. Gar nicht gut. Der Arzt gibt ihr noch ein paar Wochen.".

„Scheiße. Das... tut mir leid.", Zayn schien nicht so richtig zu wissen, was er sagen sollte, um mich zu trösten. Es gibt auch nichts, was er hätte sagen können. Normalerweise hätte er mich einfach umarmt und das wäre wohl das einzige gewesen, was mich trösten würde. Aber jetzt ist die Situation zwischen uns beiden irgendwie komisch und es herrschte eine recht angespannte Stimmung.

„Zayn.", „Sol.", sagten wir beide wie aus einem Mund.
„Sag du zuerst.", bot er mir an und lächelte flüchtig.

Ich nickte: „Okay. Es... es tut mir leid, Zayn. Ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass ich dich vernachlässigt habe. Du hast recht, ich habe kaum noch Zeit gehabt und... Wenn ich dir das Gefühl gegeben habe, du wärst mir unwichtig, dann... dann tut es mir leid. Das wollte ich nicht. Du bist mir wichtig. Sehr wichtig sogar.".

Zayn kam ein Schritt näher und lächelte mich an: „Du bist mir auch wichtig. Sehr wichtig. Ich hab überreagiert und das tut mir leid. Und es tut mir auch so leid, dass ich nicht für dich da war, als du im Krankenhaus warst.".

„Zayn, das ist nicht schlimm. Ich hatte nur etwas Fieber, da hättest du eh nichts machen können.", beruhigte ich ihn.

„Ich hätte da sein können.".

„Du bist jetzt da.".

„Ich verspreche dir, dass ab jetzt immer da sein werde.".

„Und ich verspreche dir, dass ich eine bessere Freundin sein werde. Wenn... du mich lässt.", fügte ich schnell hinzu, denn immerhin waren wir noch getrennt.

„Wenn du mir verzeihst, dass ich eine beleidigte Teewurst war.".

Ich musste grinsen: „Es heißt immer noch Leberwurst.".

„Klugscheißer.", murmelte er und zog mich in eine Umarmung, die ich glücklich erwiderte.

„Aber eine Frage habe ich noch...", er strich mir eine Haarsträhne meiner Perücke hinters Ohr und sah mich skeptisch an: „Mich hat kein Hund gebissen, oder? Und erst recht kein Labradoodle.".

„Du standest mitten in der Nacht neben meinem Bett wie ein Psychopath. Sei froh, dass ich dich nur gebissen habe.". 

SunriseWhere stories live. Discover now