Zweiundzwanzig

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Ich sah nervös auf die Uhr. Gestern hatte ich mit Emma ausgemacht, dass wir uns um zwölf Uhr vor der Ballettschule treffen, aber nun war es 12:15 Uhr und von ihr fehlte immer noch jede Spur. Ich wollte gerade reingehen, um zu sehen, ob sie dort auf mich wartete, als sie mir gehetzt entgegen gerannt kam: „Tut... mir... leid.", japste sie außer Atem „Mein Dad war noch arbeiten und ich musste auf meinen kleinen Bruder aufpassen.".

„Schon okay.", beruhigte ich sie „Gut, dass du es sagst! Hast du mit deinen Eltern alles abgesprochen? Sind sie einverstanden, dass ich dich unterrichte?".

Sie nickte eifrig: „Ja, mein Dad hat nichts dagegen.".

„Und deine Mom?".

Emma biss sich auf die Unterlippe: „Ich habe nur noch meinen Dad. Meine Mom... ist vor drei Jahren gestorben.".

„Oh... das... tut mir sehr leid, Emma.".
Das war ja mal wieder typisch für mich. Schön mit Anlauf ins Fettnäpfchen getreten. Toll gemacht, Solea. Ganz, ganz toll gemacht.

„Was ist? Wollen wir anfangen?", fragte sie und lächelte mich an. 

Erleichtert über den Themenwechsel nickte ich: „Ja, lass uns reingehen.".

Wir liefen in die Mädchenumkleide der Anfängerklasse, damit sich Emma umziehen konnte. Sie sah mich zerknirscht an und holte ihre alte Jogginghose aus der Tasche: „Mein Dad hatte noch keine Zeit, mit mir einkaufen zu gehen.".

Ich öffnete meinen Rucksack und zog einen dunkelblauen Ballett-Body heraus.

„Müsste etwa deine Größe sein. Ist ein alter Body von mir. Probier ihn mal an.".

Mit strahlenden Augen nahm sie den Anzug und zog ihn an. Er saß perfekt.

„Na bitte. Schon viel besser. Wenn du möchtest, kannst du ihn behalten.".

„Ehrlich?!", fragte sie ehrfürchtig.

Ich zuckte mit den Schultern: „Klar, ich bin eh rausgewachsen. Er passt mir sowieso nicht mehr.".

„Boah, danke!", glücklich drehte sie sich im Kreis „Jetzt bin ich eine echte Ballerina.".

„Na ja." ich zeigte auf ihre feuerroten Locken, die offen über ihren Schultern lagen „Fast. Dreh dich mal um.".

Sie tat, worum ich sie bat und ich steckte ihre Haare zu einem Dutt nach oben und verfestigte alles mit einem Haarnetz und geschätzt zweihundert Spangen.

„Geht das so, oder ziept es?", fragte ich, als ich fertig war.

„Es ist... perfekt.", antwortete sie und bestaunte sich im Spiegel. Auch ich musste zugeben, dass man das Mädchen fast nicht wieder erkennen konnte.

Wir verließen die Umkleide und gingen in den einen Trainingsraum, den ich für uns für zwei Stunden reserviert habe. Ich setzte mich auf eine der Bänke, während Emma anfing, durch den Raum zu joggen, um sich zu erwärmen.

„Wie lange tanzt du schon?", fragte sie plötzlich.

„Ich habe angefangen, als ich vier Jahre alt war.", antwortete ich. „Ich war in einer Kindergarten-Ballettgruppe.".

„Da war ich auch mal!", rief sie „Und tanzt du sogar schon auf Spitze?".

Ich lächelte: „Ja.".

„Cool! Wann darf ich auf Spitze tanzen?", fragte sie aufgeregt.

„Das dauert noch, Emma. Du musst erst einmal alle Techniken und Schritte beherrschen. Du musst deine Fußgelenke stärken und du musst ausgewachsen sein, bevor du deine ersten Spitzenschuhe bekommst. Sonst zerstörst du dir deine Füße.".

SunriseWhere stories live. Discover now