Der erste Schultag

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Elektrische Gitarren, Schlagzeug und eine schrille Stimme. Das waren die Zutaten für den schlimmsten Wecker aller Zeiten. Ich wusste, dass Susanne auf Hardrock stand, aber damit wollte doch kein normaler Mensch geweckt werden.

„Susa", quengelte ich, „Mach das aus."

„Nein", knurrte sie zurück, „Das ist grade eins meiner Lieblingslieder. Außerdem höre ich früh immer Radio. Das ist immer noch mein Zimmer."

Ich setzte mich auf und sah das leuchtende Radio auf dem Beistelltisch neben Susannes Bett. Selbst wenn ich den Radiowecker ausschalten würde, würde sie ihn sofort wieder anmachen.

Ich stand von der Matratze auf und merkte sofort, wie sehr ich mein Bett vermisste – oder überhaupt ein Bettgestell. Müde schlurfte ich ins Bad. Als ich danach zurück in mein Zimmer wollte, sah ich, wie Nina den Tisch deckte.

„Frühstücken wir gemeinsam?", fragte ich.

Nina nickte: „Wenigstens eine Mahlzeit am Tag will ich mit euch zusammen essen. Ich arbeite in der Woche bis abends. Jürgen ist aber schon bei der Arbeit."

„Schade", antwortete ich, „Aber wenigstens essen wir zu viert."

Ich lief wieder in Susas und mein Zimmer und wollte mich umziehen. Susanne lag immer noch im Bett und summte ein Lied mit. Auf dem Radio stand: „Iron Maiden – Can i play with madness".

Ich konnte mir eine Frage nicht verkneifen: „Stellst du dir eigentlich immer die Frage, wenn du aufstehen sollst?"

Susanne setzte sich auf: „Irgendwie schon. Und jetzt wo du da bist, wird es nicht normaler."

Ich nahm den Brief meiner Mutter aus meiner Tasche und setzte mich neben Susanne: „Hier. Das ist zwar keine Normalität, aber ein Brief von Mum."

Susanne setzte die Brille auf und sah sich den Brief von allen an. Dann zerriss sie ihn, ohne ihn zu öffnen, in zwei Hälften.

„Hab meine Normalität wieder hergestellt", sagte sie und stand auf, „Weißt du, wie lange sie sich nicht mehr bei mir gemeldet hat?"

Ich riet: „Seit deinem dreizehnten Geburtstag und vorher auch nur an Geburtstagen."

Sie stand schon an der Tür, drehte sich aber nun wieder zu mir um: „Okay, woher weißt du das?"

Ich antwortete: „Seit Janet auf der Welt ist, hat sie immer unseren Geburtstag vergessen. Solange Jacobs Tochter Catherine noch bei uns wohnte, hatte sie den Geburtstag nur mitbekommen, wenn Cathy mir gratulierte und danach hat sie dich angerufen. Cathy hat vor vier Jahren ein Auslandsjahr gemacht und ist danach wegen des Studiums ausgezogen. Seitdem hat Mum mir nur zu meinem sechzehnten Geburtstag gratuliert, weil ich bei der Sendung My Super Sweet 16 teilgenommen habe. Die Party fand zwei Wochen später statt. Tja, da war es Mum zu peinlich, dir auch zu spät zu gratulieren."

Susanne wirkte verletzt: „Na toll. Und überhaupt: wenn sie tatsächlich Kontakt zu mir aufnehmen will, soll sie das selbst tun und nicht über andere."

Dann rannte sie aus dem Zimmer. Ich nahm die beiden Briefhälften aus den Umschlagshälften und hielt sie aneinander. Er war kurz. Mum erzählte ein wenig über sich und fragte, warum sich Susanne nie meldete. Ich lachte trocken, legte den Brief auf ihr Bett und stellte mich vor meine Schrankhälfte. Als Susanne zurückkam, fragte ich: „Gibt es Kleidervorschriften an deiner Schule?"

Susanne zuckte die Schultern: „Keine Hot Pants und nicht nackt."

Sie schob mich auf die Matratze, die vor dem Schrank lag, und zog sich eine dunkle Hose und einen langen dunkelgrünen Pullover heraus. Danach stellte ich mich wieder vor den Schrank und überlegte, wie ich mich am ersten Schultag präsentieren wollte.

Rich Girl DownWhere stories live. Discover now