37. wahre Freunde und papier

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Perplex starrte ich Mila an.
Hatte ich sie jemals weinen sehen?

Seit meinem Umzug hatte ich oft Mädchen mitbekommen, die nah am Wasser gebaut waren.
Wie Sofie immer wieder wegen ihrer Mutter, oder wegen Überanstrengung oder einem Streit von uns, oder Cleo wegen einer 2- immer wieder angefangen hatte zu weinen.

Doch Mila? So verletzlich hatte ich sie noch nie gesehen.

„W-Wie konntest du d-das... wissen?" bekam sie zwischen einzelnen Schluchzern heraus.

Sie starrte mich an, als hätte sie Angst gleich verprügelt zu werden.

„Mila" Ich rutschte um den kleinen Berg aus Karten Essen und Kerzen herum, sodass ich neben ihr saß und meinen Arm etwas unbeholfen um sie legen konnte.

„ein sehr guter Freund von mir, damals wo ich gewohnt hab, der hat auch immer ein Mädchen so angesehen. Mit diesem verliebten Blick mit dem er sonst niemanden angesehen hat. Und rate mal was, jetzt sind sie zusammen." ich grinste und strich ihr beruhigend mit der Hand über den Rücken.

„a-aber... das ist doch n-nicht das selbe." sie hatte ihre Knie angezogen und vergrub nun ihr Gesicht darin.

„Nicht das selbe? Du liebst sie, und vielleicht liebt sie ja auch dich! Du wirst es nie herausfinden wenn du das für immer verschweigst."

„Nein das geht ich! Das ist nicht gut!" sie klang wie ein Kleinkind das etwas predigte was man ihr zu Hause beim Tischgebet immer und immer wieder eingetrichtert hatte.

„Mila!" mein Ton war nun fester, deutlicher. Ich packte sie an den Schultern und brachte sie dazu, ihren Kopf zu heben. Eindringlich sah ich sie an.

„es ist egal wen man liebt! Ich kenne Schwule und ich kenne Lesben und ich kenne Heteros und manche Beziehungen sind scheiße aber das liegt dann an den Menschen und nicht ob sie n Kerl oder n Mädchen sind!"

„Ich glaub nicht das du mich verstehst Noah." sie hatte sich etwas gefangen, zitterte jedoch immer noch.
„Das geht nicht."
„Aber warum denn nicht?! Warum lügst du allen was vor warum lügst du dir selber was vor?! Dieses ganze rumgevögel mit irgendwelchen Vollidioten? Erklär mir was das Problem ist."

Mila lachte Bitter auf, schüttelte den Kopf.
„Du willst Gründe? Meine Mutter- nein meine ganze Familie." obwohl ihre Stimme immer noch leicht brüchig war glaubte ich einen Anflug von Zorn herauszuhören „hast du dich schonmal gefragt wo mein Vater ist? Ja? Nein? Nun, er sitzt im Knast, weil er, als mein großer Bruder damals fünfzehn Jahre alt war, ihn fast totgeprügelt hätte weil er ihn und seinen damaligen besten Freund bei einem Kuss erwischt hat. Ja, mein Bruder is ne schwuchhtel. Meine Mutter, meine ach so jung gebliebene coolen Mutter hat nichts aber auch gar nichts getan und hätten die Nachbarn nicht mein lautes weinen und die Schreie meines Bruder gehört würde der Kranke bastard wahrscheinlich immer noch frei rumlaufen." sie holte tief Luft, redete sich immer mehr in Rage aber ich hörte ihr einfach nur zu. Für mich wirkte es so, als hätte sie all das schon viel zu lang mit sich rumgetragen.

„Seitdem gibt es für meine Mutter nur noch ein Kind, und das bin ich. Aaron wohnt schon lange nicht mehr hier, ich hab ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. In den Augen meiner Eltern bin ich ihre perfekte Tochter, es interessiert sie nicht was ich für Noten schreibe, ob ich die Schule schaffe oder nicht. Für sie, für meine Mutter, zählt nur wie viele Freunde ich habe, wie ich aussehe, wie ich mich anderen präsentiere, wie viele Verehrer ich habe, wie beneidenswert ich bin. Würde meine Mutter erfahren ich könnte auch nur ansatzweise etwas von dem Mädchen wollen was hier seit Jahren ein und aus geht, was hier schon fast wie zu Hause ist, dann könnte ich vermutlich meine Sachen packen und auf der Straße leben."

Wieder musste sie lachen, ein zittriges freudloses Lachen.
„Und dann gibt es ja auch noch den Rest der Welt da draußen. Klar wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert aber überleg mal wie viele Menschen ich verlieren würde, wenn sie wüssten wer ich wirklich bin? Man kann noch so sehr auf liberal und weltoffen tun aber du kannst mir nicht erzählen dass man nicht anders behandelt wird wenn man nicht weiß, wohlhabend und hetero ist. Ich könnte so vieles verlieren..."

Nach einigen Minuten der Stille räusperte ich mich.
„Ich sag dir jetzt mal was: diese Welt ist so beschissen verkorkst. Das wird uns täglich unter die Nase gerieben, von deinen Eltern, von meinen, von unseren Lehrern und auch unseren Freunden und denen die sagen sie wären unser Freunde obwohl sie es nicht sind. -aber genau deswegen, weil uns eigentlich täglich ein Grund geliefert wird von der nächst besten Brücke zu springen, sollten wir sowas banales und gleichzeitig verfickt Schönes wie Liebe nicht verleugnen."

Milas große Augen blinzelten mich überrascht an.
Wahrscheinlich war ich der letzte von dem sie sowas erwartet hatte zu hören.

„Meine Schwester hat sich umgebracht weil ein paar wichser damals beschlossen hatten ihr das Leben zur Hölle zu machen. Danach hab ich angefangen alles und jeden abzuweisen, zu hassen und zu verachten. Jedes kleinste Anzeichen wenn jemand versucht hatte sich mir anzunähern hab ich abgeblockt, auch wenn mir der ein oder andere vermutlich durch schwere Zeiten geholfen hätte."

Ich lächelte leicht als ich Mila kopfschüttelnd musterte.
„Merkwürdigerweise hab ich erst vor kurzem damit aufgehört."

Sie verstand was ich meinte, das sah ich ihr an.

„Ich hab Angst davor." murmelte sie dann. „Davor was passiert wenn... alle es wissen würden. Wenn sie mich hassen würden, oder eklig fänden..."
„Kein wahrer Freund würde so von dir denken. Wer es tut, ist keiner." ich rückte etwas von ihr ab, stand auf und hob meine Jacke auf, kam dann wieder zurück.

„Ich werde es niemandem erzählen, versprochen. Aber vielleicht solltest du es tun."

„Nach was suchst du?" fragte sie während ich in meinen Jackentaschen kramte.
„Ich glaub ich hab noch irgendwo Taschentücher. Ah ja!" ich zog eine volle Packung heraus, keine Ahnung warum ich die mit mir mitschleppte, und gab sie ihr.

„Dir is was rausgefallen." kam es von Mila und sie beugte sich zu meinen Füßen, hob einen zusammengeknüllten, pastel lilafarbenen Zettel hoch und gab ihn mir.

Verwundert nahm ich ihn entgegen.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals auf so ein Papier geschrieben zu haben.

Scum Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz