19. nächtliche Bekanntschaften

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Ich lief und lief und lief.
Auch wenn ich nicht wollte.
Auch wenn nach jedem Meter meine Lunge mehr zerriss.
Auch wenn ich nach jedem weiteren Schritt das Gefühl hatte, gleich zusammen zu brechen.

Es war dunkel, ich orientierte mich an den Straßenlaternen, beleuchteten Geschäften und blinkenden Reklametafeln.

Wie lang war ich gerannt?
Zehn, zwanzig, dreißig Minuten? Oder doch eine Stunde?

Egal wie lange, ich war am Ende.
Komplett kraftlos ließ ich mich auf einer Bank nieder und blickte mich jetzt erst richtig um.

Zu meiner Überraschung war ich in Claires Wohngegend.
Während mein noch rasendes Herz sich beruhigte, sah ich zu der großen Bahnhofsuhr, die groß und hell hervorstach.

01:52

Konnte ich es bringen, jetzt noch bei Claire zu klingeln?

Wahrscheinlich war es weniger das Problem dass sie schlafen würde sondern das sie höchstwahrscheinlich einfach nicht zu Hause war.
Es war schließlich Samstag Abend.

Samstag Abend und ich war hier.
Um kurz vor zwei, verschwitzt und alleine.
Ungeliebt.
So fucking unbedeutend.

Neue Tränen bahnten sich ihren Weg meine Wangen hinab, von meinem Kinn tropfend.

Wie erbärmlich ich doch war.

Ich brauchte jetzt jemanden.

Außerdem wurde mir mit jeder Minute kälter, schließlich hatten wir Winter.

Mit wackligen Beinen stand ich auf.
Claire würde mir sicher helfen, so wie sie es immer tat.

Im gehen spürte ich wie der dünne Schweißfilm auf meiner Haut begann zu trocknen.
Hoffentlich würde ich nicht krank werden.
Ich wurde schnell krank, und das ich ohne Jacke gegangen war machte mich noch wütender auf mich selbst.
Fuck wie konnte ich nur so dumm sein?!
Wenn ich krank war konnte ich mich nicht bewegen und dann... und dann...

Die Panik ließ mich wieder schneller laufen, ich musste so schnell wie möglich ins warme.

Schon irgendwie erbärmlich das ich mir darüber solche Gedanken machte.
Ich hatte ja wirklich Probleme, ich armes Mädchen.

Noch während ich rannte biss ich meine Zähne heftig aufeinander weil ich sonst vor Wut laut aufgeschrieen hätte.

Hass.
Wenn ich an mich dachte verspürte ich hass.

[...]

An Claires Haus angekommen, sah ich wie die Tür unten geöffnet war und so trat ich ein.

Den Aufzug ignorierend lief ich die fünf Stockwerke im Eiltempo hoch.

Als ich vor Claires Wohnung zum stehen kam, atmete ich noch einmal tief durch und drückte dann auf die Klingel.

Ich wartete.
Doch nichts geschah.

Noch einmal klingelte ich, und nochmal und nochmal.
Ich wollte nicht einsehen das sie offensichtlich nicht da war, ich brauchte sie jetzt einfach.

Mittlerweile war ich schon fast abhängig von Claires beruhigenden Worten, ihren tröstenden Umarmungen und immer helfenden Ratschlägen.

Vieles war so simpel, aber irgendwie hatten alle ihre Taten eine unglaubliche Wirkung auf mich.

Ich konnte es selbst nicht in Worte fassen.

Immer noch verzweifelt von einem Bein auf das andere tretend und hoffend, wurde auf einmal die Tür aufgerissen.

Und da stand sie.
Claire.

Sie musste wohl erst vor kurzem von einer Party gekommen sein, denn aus den zwei lockeren, am Kopf entlang geflochtenen Zöpfen, hingen ein paar Strähnen, ihr Lippenstift war leicht verschmiert und sie roch nach Alkohol und Zigarettenrauch.

Gut, ich sah wahrscheinlich auch nicht viel besser aus. Ich konnte förmlich spüren wie die roten Stress Flecken sich auf meinem Gesicht ausbreiteten, und auch wie meine verquollenen Augen nicht zu übersehen waren.

„Was willst du hier?!"

Erschrocken zuckte ich zusammen.
Claires dunkle Augen glitzerten wütend.

„I-Ich... ä-ähm... ich wollte f-fragen"

Doch ich unterbrach mich selbst.
So hatte ich Claire noch nie erlebt, sie wirkte so völlig abwesend, das einzige was durchdrang war ihr ganz offensichtlicher Zorn.

„E-Egal... tut mir leid das ich dich gestört habe..." murmelte ich.

Abwesend fuhr sich meine Gegenüber, über die Nase, dann nickte sie und knallte die Tür zu.

Aua.

Solch eine Abfuhr war ich von anderen gewöhnt, von meiner mum beispielsweise, aber auf Claire hatte ich immer zählen können.
Das war das erste mal, wo ich wirklich und wahrhaftig alleine war.

Wieder stiegen mir Tränen auf, und mit zitternder Hand wischte ich sie weg, doch es kamen immer wieder neue.

Mit schleppenden Schritten tapste ich die Treppenstufen wieder herunter, trat in die kühle Nachtluft.

Wohin jetzt?
Nach Hause?
Es blieb mir wohl nichts anderes übrig, auch wenn ich gerade nichts lieber vermeiden würde.
Also lief ich, an den Clubs und Bars vorbei die jetzt gerade erst richtig öffneten, wo die Menschen lachten und tanzten.

Ich lief immer weiter, bis ich nur noch zwei Häuserblocks von meinem zu Hause entfernt war. Ich kam auf den Brunnen zu, der dort stand und an dem ich jeden Morgen mit dem Fahrrad vorbei fuhr.

Kurz setzte ich mich, um den Moment so weit es ginge hinaus zu zögern.

„Du auch hier?"

Wurde ich plötzlich aus meiner starre gerissen und mit rasendem Herzen starrte ich geschockt ins Dunkle, weil diese Frage mich so überrumpelt hatte.

Ich spürte wie sich jemand neben mich setzte und drehte meinen Kopf um zu sehen wer es war.

„Euch werd ich echt nicht los..."

Scum Where stories live. Discover now