Eins

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„Und eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! Hoch das Bein, Solea! Wo ist deine Arabesque? Na los, hoch, hoch!". Die Stimme meiner Ballettlehrerin donnerte in meinen Ohren, ebenso wie das Klopfen ihres Gehstockes und ihrer hohen Schuhe, als sie mit schnellen Schritten auf mich zukam. Wofür sie diesen Stock brauchte, wusste ich auch nicht so genau, vermutlich nur, um ihren Schülern Angst zu machen, wenn sie damit bedrohlich auf den Boden schlägt. So wie jetzt gerade.

„Tut mir leid, Madame Rouge!", hastig streckte ich mein Bein noch mehr in die Höhe.

„Willst du nun in die Kompanie oder nicht?".

„Natürlich will ich das, Madame Rouge.".

„Dann streng dich mehr an.".

Ich verkniff mir eine spitze Antwort. Ich wollte keinen Ärger.

„Und eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! Und Penché und Plié! Nein, so wird das nichts, komm her!".

Ich blieb stehen, ließ erschöpft die Arme sinken und lief zu meiner Lehrerin, die gerade die Musik ausmachte.

„Solea! Hast du die Penchés geübt, wie ich es dir gesagt habe?".

Ich nickte hastig: „Ja, Madame Rouge.".

„Und warum sehe ich dann keine Verbesserungen?".

„Aber ich kriege mein Bein doch schon viel höher!".

„Es geht nicht darum, wie hoch du dein Bein kriegst. Es geht um deine Technik. Sie ist mangelhaft. Du tanzt mit Leidenschaft und mit viel Gefühl, was auch sehr schön ist, aber die Richter nicht die Bohne interessiert. Im Wettbewerb geht es um Technik. Je sauberer die Technik, desto höher die Punkte.".

„Aber bei dem World of Dance letzte Woche hatte ich doch fast Bestpunktzahl!".

„Deine Technik mag sicherlich für einen Tanzwettbewerb genügen. Für die internationale Meisterschaft jedoch nicht. Und nur wenn du da gut abschneidest, kommst du in die Kompanie.".

„Ich weiß.".

„Für heute sind wir fertig. Ich will, dass du bis morgen die Penchés beherrschst.".

„Okay, Madame Rouge.".

„Wir sehen uns morgen.", mit diesen Worten stapfte sie weg und ich blieb allein in der Halle zurück.

Ich ging zu meiner Tasche und nahm einen Schluck aus meiner Wasserflasche.

Madame Rouge war die beste Ballettlehrerin an dieser Schule und ich konnte mich glücklich schätzen, dass sie mich einzeln unterrichtete. Ich weiß gar nicht so genau, wann ich mit dem Tanzen angefangen habe. Ich glaube es war im Kindergarten, als ich etwa drei Jahre alt war. Meine Erzieherin leitete eine Kinderballettgruppe, zu der ich jeden Mittwoch ging. Als ich in die Schule kam, musste ich feststellen, dass es dort keine Kinderballettgruppen gab. Also bettelte ich so lange, bis mich meine Eltern in einem Verein angemeldet haben. Dort tanze ich fünf Jahre lang, bis ich es mit etwa elf Jahren an diese Ballettschule schaffte. Ich trainierte zwei Tage die Woche bei Miss Lavender, doch schon bald merkte ich, dass das Tanzen für mich mehr als nur ein Hobby ist. Mit dem Wunsch, professionelle Balletttänzerin zu werden, kam ich in den Kurs von Madame Rouge. Ich muss gestehen, dass ich erst ziemlich tief gefallen bin, da ihr Unterricht deutlich strenger war, aber schon bald wurde ich die Beste im Kurs. Vor etwa einem Jahr hat mir Madame Rouge das Angebot gemacht, mich persönlich zu unterrichten. Fünf Tage die Woche, Montag bis Freitag. Ich trainiere jeden Tag. Mehrere Stunden. Mit dem Wunsch, an die Kompanie zu kommen.

„Hab ich mir doch gedacht, dass ich dich hier finde.".

Ich erstarrte und drehte mich erschrocken um: „Man, Kayla, erschreck mich doch nicht so! Ich dachte, ich wäre die einzige, die noch hier ist.".

SunriseWhere stories live. Discover now