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Die Zeit bis zum Mittwoch der Wahrheit hätte nicht langsamer vergehen können.
Liam ging mir zwischendurch auf die Nerven.
Vor allem, als er sich sinnbildlich vor Mum stellte und ihre Handlungen verteidigte.
»Mum kann bestimmt nur ihre Gefühle nicht zeigen«, meinte er und ich musste mich innerlich zusammen reißen, um mir nicht stark gegen die Stirn zu langen. Würde er selbst den Teufel in Schutz nehmen? Vermutlich.
Als mir dann allerdings "Du bist auch wirklich leicht zu manipulieren, Li" herausrutschte und eine beklemmende Stille eintrat, fühlte ich mich schlecht.
Sein Gesicht würde für immer in meinem Kopf bestehen bleiben. Er senkte kurz den Kopf, traurig und verletzt. Dann sah er mir wieder in die Augen und ich hätte mich nur zu gern, geohrfeigt. So viel Wut hinter all dem Schmerz. Ich konnte es nicht leugnen, dass ich ihn verurteilte, dass er unsere Mutter mehr liebte, als ich es tat und verschmerzen konnte. Aber hinter seinen Worten war Wut und davon eine ganze Menge. Doch er glaubte, dass er sie verdrängen konnte, wenn er sich einredete, sie würde ihn vielleicht eines Tages wirklich so behandeln, wie eine normale Mutter. Und Gott, ich wünschte es ihm.

°°°

Als ich am Mittwoch morgens die Augen öffnete und den Tag realisierte, schlug mein Herz sofort zwei Schläge schneller. Vielleicht würde ich diese Chance bekommen.
Nur vielleicht und die Chance war sehr gering, aber es reichte, um meinen Puls rasen zu lassen.
Ich warf mich in Schale und quetschte mich in einen Bleistiftrock und eine taillierte Bluse. Es war das einzige Outfit, in dem man mich mit meinen neunzehn Jahren noch ein bisschen älter schätzen würde, als ich war. Schließlich rundete ich das Outfit mit High Heels ab und schlichten Ohrringen ab und entschied mich für ein dezenteres, aber ausdrucksstarkes Make-up, indem ich meine Wangenknochen hervorhob, meine Augen durch einen weißen Kajal betonte und mir transparenten Lipgloss auflegte.
Als ich mich dann fertig im Spiegel betrachtete, war ich zufrieden.

»Nicht schlecht«, meinte Liam, als ich mich im Kreis drehte und mich vorführte.
Ich lächelte ihn an und schloss ihn kurz in meine Arme. Es bedeutete mir so viel, dass er meine Hoffnungen nicht als dumme Mädchenschwärmerei abtat, sondern mich unterstützte. Dafür hatte ich ihn noch lieber als ohnehin schon. Ging das überhaupt?
Ich strahlte, als ich das Haus verließ und mich ans Steuer des Cabrios setzte. Doch ich musste einmal durchatmen, bevor ich den Schlüssel drehte und der Motor ansprang.
»Rocken wir den Scheiß«, motivierte ich mich selbst und gab Gas.
Die Stadt war erstaunlich leergefegt an diesem Morgen. Vermutlich lag es daran, dass jede anständige Arbeit begonnen hatte und jeder Minderjährige sich in den heiligen Hallen seiner Schule befand. Im
E-mail Anhang war eine Adresse gewesen, zu der ich kommen sollte und gerade versuchte ich mich zwanghaft zurechtzufinden. Aber überall verzweigten sich die Straßen und so blieb mir nichts anderes übrig, als meine Karte aus dem Handschuhfach zu ziehen und, während ich in einer Parklücke stand, sie auszurollen. Ich brauchte erst einmal gefühlte zehn Minuten, um mich zu orientieren, wo ich mich gerade befand und, als ich meinen Standort dann endlich ausgemacht hatte, auch noch mein Ziel zu finden.

Als ich dann endlich einen Parkplatz gefunden hatte, der mein letztes Kleingeld geschluckt hatte, stand ich endlich vor dem Wolkenkratzer der Daily. Die verglaste Fassade machte mich für einen Moment sprachlos. Hier spielte sich ein vollkommen anderes Leben ab. Beständiges Treiben von Menschenmassen, die sich an mir vorbeidrängten, als ich auf dem Gehsteig stand und in die Höhe starrte.
In Glas spiegelte es den blauen Sommerhimmel über meinem Kopf wider. Keine Wolke räkelte sich dort oben und langsam machte sich die Wärme, durch die drückenden Sonnenstrahlen bemerkbar, also holte ich tief Luft und trat durch die Drehtür.
Der Geruch nach frischer Pfefferminze umgab mich sofort und hüllte mich in einen Kokon.
Vermutlich hatte ich mir meinen Lebtag das Innere einer Zeitung ganz anders vorgestellt. Hektischer und weniger, wie der Eingang eines Nobel-Hotels.
Zwei Frauen tippten in der gigantischen Eingangshalle auf Tastaturen herum, während auf Treppenstufen im Hintergrund eine edel gekleidete Frau hinuntertrat. Unter ihrem feinen bordauxroten Kleid spitzte bei jedem Schritt eine Perlenkette hervor, als bettelte sie um Aufmerksamkeit.
In ihren Händen hielt sie ein iPad, das sie einer der zwei Damen reichte.

Days Of PleasureWo Geschichten leben. Entdecke jetzt