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Ich sprang aus dem Auto und riss die Haustür auf, die zu meinem Entsetzen aufgebrochen zu sein schien.
»Liam?«, brüllte ich und wusste nicht, wovor ich mehr Angst haben würde. Das er selbst verletzt war oder jemand anderen verletzt hatte. Was traute ich ihm eigentlich zu? Immerhin kreisten meine Gedanken um meinen kleinen Bruder, den ich mit zwei Jahren in den Armen gehalten hatte. Mein kleiner Bruder, der mit mir gemeinsam Sandkuchen gebacken hat und der sich nicht zu schade war, meine beste Freundin zu ersetzen, als ich Elli noch nicht kannte. Liam war immer großartig gewesen und dass ich ihm auch nur Gewalt zutraute, sollte mich schämen.
Was, wenn es harmlos war und er hyperdramatisierte?
Ich brüllte seinen Namen so laut, dass mein Körper brannte und meine Lunge schmerzte. Ich war erfüllt von Angst, die meinen Körper lähmte. Sawyer war mir gefolgt und nach kurzen Augenkontakt, übernahm er den unteren Hausflur. Seine Schritte verklangen. Ich stürmte die Treppen hinauf. Meine Schritte hallten auf den Stufen im Haus nieder und es klang, als würde ein Geschwader unser Haus in Grund und Boden trampeln. Ich suchte sein Zimmer ab und war enttäuscht, ihn dort nicht vorzufinden. Auch in meinem Zimmer, wo ich ihn am wenigsten vermutet hätte, war er nicht. Aber das spendete mir Trost, da er, um sich dort aufzuhalten, in einem wirklich schlimmen Zustand sein musste.
Meine Anspannung allerdings war nicht verschwunden. Ich stieß die Zimmertür des Schlafzimmers meiner Mutter auf, konnte aber außer der zerwühlten Bettdecke nichts im Raum ausmachen.
Endlich hörte ich ein Lebenszeichen. Ein leises Wimmern, das aus dem Badezimmer drang.
Ich schrie: »Alec, ich glaube, ich habe jemanden gefunden« und hörte, wie er hinaufstürmte.
Ich öffnete die Tür und stieß einen freudigen Schrei aus. Liam hatte sich in die Dusche gekauert und den Kopf auf die Knie gelegt.
Er hob den Kopf, als ich seinen Namen schrie und in das Badezimmer trat.
Er sah einfach nur fürchterlich aus.
Seine Nase schien gebrochen zu sein und die grünen Augen, die normalerweise so intensiv strahlten, wurden von Prellungen und Schwellungen überdeckt. Dunkle Schatten säumten sie. Seine Lippen waren aufgeplatzt und Blut tropfte auf sein weißes T-Shirt, auf dem in großen Zügen Gucci prangte und zerstörte den Schriftzug. Liam hatte einen Minijob abgenommen, nur, um sich das überteuerte Luxusshirt leisten zu können.
»Liam, was ist passiert?«, weinte ich mittlerweile und nahm ihn in meine schützenden Arme. Sawyer trat hinter mir ein und betrachtete das Häufchen Elend in meinen Armen. Er kniete sich neben mich und legte mir sanft einen Arm um die Hüften. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter und atmete tief aus. Diese Geste der Intimität schien nicht nur mich zu überraschen.
»Ich hab Scheiße gebaut, Hills«, flüsterte Liam und starrte mich an; in seinen Augen spiegelte sich die Trauer und etwas wieder, dass ich seiner gebrochenen Seele zuschrieb.
»Was auch immer es ist, wir können es schaffen«, versuchte ich ihn zu ermutigen, aber er schüttelte den Kopf. Er schien ehrlich verzweifelt zu sein.

»Ich stecke da ganz tief drin.«
Ich strich ihm behutsam über die Stirn und sagte: »Ich bin immer für dich da. Das weißt du.«
Meine Worte, die ihm Trost spenden sollten, verfehlten allerdings ihre Wirkung.
»Da kannst aber selbst du mir nicht helfen.«
»Wobei denn? Sag schon«, drängte ich und bemerkte spät, dass meine Stimme einen hysterischen Unterton hatte.
Liam antwortete nicht und so nahm ich seinen Kopf in die Hände, so dass er meinem Blick nicht mehr ausweichen konnte. Sein Augen waten angsterfüllt, aber auch von etwas, das ich als Scham bezeichnen würde. Tiefe Scham.

Er drückte sich in die Höhe und sah zum ersten Mal Sawyer vollkommen an, der im Türrahmen stand. Sein Blick glitt zwischen mir und ihm hin und her, bis Liam dann ganz unschuldig fragte: »Was macht denn Sawyer in unserem Badezimmer, Schwesterlein?«
Ich boxte ihm leicht gegen die Schulter und beobachtete, wie Alecs Mundwinkel in die Höhe glitten.
»Das ist ein anderes Thema, Brüderchen.«
Ich verdrehte die Augen, als er die Nase rümpfte und stützte Liam, bis er nur sagte: »Ich will, dass du dir etwas ansiehst.«

Er war ernst, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Er zeichnete sich normalerweise durch seine humorvolle spaßige Art aus. Was wohl in ihm vor sich ging? Für was gab er sich die Schuld?
Er lief durch den Flur, bis er auf unseren Abstellraum zusteuerte. Bis jetzt lagerte Mum dort alles mögliche, für das sie sonst keinen Pkatz fand. Er öffnete die Tür und zog an dem Band, durch das die alte Glühbirne zum Leuchten gebracht wurde. Er öffnete einen Schrank und schob Vasen, die vom Herumstehen ganz verstaubt waren, beiseite. Schließlich glitt seine Hand in eines der Gefäße und er zog eine Stofftasche heraus. Ich entriss sie seinen zitternden Händen und zog einen Beutel mit eingeschweißten weißen Inhalt heraus.
Ich verstand sofort, was ich in den Händen hielt. Angewidert ließ ich meine Hand sinken und starrte meinen Bruder entsetzt an. Dann holte ich aus und ohrfeigte ihn. Liam zuckte zusammen, aber an seinem Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass er wusste, dass er diese Strafe verdient hatte.
»Ich habe dir gesagt, dass ich tief in der Scheiße stecke, Hills.«
Saeyer trat hinter mich und legte mir eine Hand um die Hüften, so dass ich eng an ihn gedrückt wurde. Neugierig betrachtete er, was ich in den Händen hielt und sagte: »Astreiner Stoff, Li. Wo hast du das denn her?«
Als Sawyer seine Hand ausstreckte, fiel mir ein Tattoo auf, das sich über seine Pulsadern wand. Es war eine Schlange, die sich um ein Kreuz schlängelte. Ich wusste, dass Sawyer zu den Männern gehörte, die sich viel aus Tattoos machten, auch wenn ich dem ganzen nicht viel abgewinnen konnte. Ich hatte nie viel von dieser Körperkunst gehalten. Aber irgendetwas faszinierte mich an dem Kreuz. Es strahlte einen Schmerz aus, den er sich durch die Schändung seiner Haut erhielt. Er hatte gelitten und nur durch dieses Art von Kunst konnte er verarbeiten, was passiert war. Ich war wie an einem anderen Ort, als ich mit meiner
Fingerspitze über das Kreuz fuhr. Sawyer zuckte leicht zusammen und verstärkte den Griff, ließ mich aber gewähren. Es war eine Überwindung; das konnte ich spüren. Obwohl ich mich eigentlich auf Liam hatte konzentrieren wollen, war ich zu sehr gefesselt von der verborgen Bedeutung.

Ich musste mich beinahe losreißen, um wieder klare Gedanken fassen zu können.
»Was ist das?«, fragte ich Liam daher weniger verärgert, als ich wollte und wahrscheinlich sollte.
»Kokain.«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, hatte ich ihn schon wieder geohrfeigt. Er zuckte zusammen und auch Sawyer hielt mich eng an sich gepresst, um meine Wut zu bremsen. Ein weiteres Mal würde er mich meinen Bruder nicht mehr ohrfeigen lassen.
»Ich glaube, du willst mich wohl vollkommen verarschen oder?«, fauchte ich entrüstet.
Liam senkte schuldbewusst den Blick und erwiderte: »Ich kann mir mein Leben nicht finanzieren, Hills. Mum kümmert sich nicht um mich und ich will sie nicht bestehlen.«
Ich lachte laut auf.
»Damit rechtfertigst du, dass Koks an irgendwelche Abhängigen vertickst?«
Ich holte tief Luft, während ich mir des Ausmaßes bewusst wurde.
»Du nimmst das doch nicht selbst, Li?«, fragte ich verzweifelt.
»Nicht durchgehend. Im Moment nicht.«
Im Moment nicht? Schön. Du willst Mum alles in die Schuhe schieben? Das könnte dir wohl passen. Aber so läuft das hier nicht.«
»Hills, ich wollte doch nicht, dass irgendetwas pas-«
»Halt deinen Mund, Li! Du bist schuld, dass Menschen abhängig werden und sterben. Und deine Gesundheit gefährdest du nebenbei auch noch. Normalerweise interessiert dich das doch auch«, unterbrach ich ihn wütend und konfrontierte ihn.
Wann war mein kleiner Bruder so geworden? So verdorben?
War ich schuld, weil ich mich nicht genügend um ihn gekümmert habe?
Ich wollte mir nicht die Schuld geben.
Einmal in meinem Leben wollte ich mir diese Schuld nicht aufladen.

Liam war mittlerweile alt genug, zu wissen, welche Entscheidungen gut und welche schlecht waren. Wenn er sich nicht auf seine Moral und seine Vernunft besinnen wollte, konnte ich ihm auch nicht helfen. Schließlich war ich seine Schwester, aber nicht seine Gouvernante. Ich war nicht für sein Leben verantwortlich. Dafür musste nur er gerade stehen. Aber auf der anderen Seite war ich seine Schwester, sein Blut und meine Liebe ging tiefer, als alles, was ich kannte. Li war meine einzige Konstante.
»Ich war diese Woche nicht so erfolgreich, wie normalerweise und da hat mein Boss mich besucht.«
»Da hat er dich besucht?«, fragte ich und hob spöttisch eine Augenbraue in die Höhe.
»Genau. Er hat mir gedroht, dass ich, wenn ich den Umsatz nicht verdoppelte, schon erkennen würde, was er unter Konsequenzen verstehe. Zur Unterstreichung seiner Argumente, hat er mich dann noch von seinen Schlägerfreunden bearbeiten lassen«, empörte er sich und deutete auf seine Nase, »Ich glaube, die ist gebrochen.«
Ich befühlte seinen Nasenrücken und nickte, als er schmerzverzerrt das Gesicht verzog.
»Da hast du wohl Recht.«
»Weißt du, Hills, ich habe mich auf diesen Tag vorbereitet. Ich meine, damit muss man ja irgendwann rechnen. Aber es war verdammt gruselig, als es klingelte und ich die Haustüre öffnete. Es war nebelig und ein Mann, weißt du, sein Gesicht wurde von einer riesigen Kapuze verdeckt, stand einfach da auf dem Absatz. Es war wie in einem Thriller. Ich hatte wirklich Angst. Ich dachte mir, jetzt zieht er die Knarre und erschießt mich.«
»Schön, dass du auch jetzt im Angesicht dieser ernsten Entscheidung noch übertreiben kannst.«
»Glaub mir einfach, Hills. Das war wirklich gruselig.«

Days Of PleasureWhere stories live. Discover now