20. Verborgene Blutlinie

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Meine süße Ariella,
ich weiß, du wirst diesen Brief niemals bekommen, aber ich möchte ihn dir dennoch widmen. Seit nun etwas mehr als drei Jahren lebe ich getrennt von dir. Eine schrecklich lange Zeit, die mir in der Seele wehtut. Ich kann nur hoffen, dass sich jemand Gutmütiges um dich kümmert.
Vor einem Jahr habe ich eine Entdeckung gemacht, die ich niemals erwartet hätte. Damals lebte ich auf einem kleinen Hof am Land, eine Dienstmagd nicht mehr.
Um nicht erkannt zu werden, habe ich meine Haare stets bedeckt gehalten und meiner rechten Wange, Kiefer und Schläfe brandnarben zugefügt. Schmerzhaft, aber effektiv. Niemand erkannte mich, niemand beachtete mich.
Ich ging regelmäßig auf Revolutionsversammlungen. Sie werden nicht öffentlich angekündigt, doch wenn du weißt wo du fragen musst, bekommst du meistens die richtige Antwort. Du siehst, Ariella, ich habe nicht aufgehört zu kämpfen. Während einer dieser Versammlungen sah ich ein Mädchen. Etwa dreizehn Jahre alt. Sie sah genauso aus wie Mutter, ich konnte es zunächst nicht glauben, aber es war eindeutig. Ich wartete mehrere Tage bis ich das Mädchen, das auf einem Nachbarhof lebte, ansprach. Ihr Name ist Isla und sie ist meine jüngste Schwester.
Nur widerwillig gab sie mir diese Auskunft, aus Angst was ich mit dieser Information tun würde. Ich dachte meine jüngste Schwester wäre mit Mutter bei der Geburt gestorben, doch hier stand sie. Glücklich und gesund. Ich konnte es kaum glauben. Seit diesem Tag sind wir gute Freunde und ich hatte endlich wieder eine Schwester um die ich mich kümmern konnte.
Ach mein Schatz, ich wünschte du könntest deine Liebe, wundervolle Tante kennenlernen. Ich wünschte, du könntest mich kennenlernen.
Aber ich gebe nicht auf, es muss einen Weg geben, wieder zusammen zu sein.
In Liebe Nelenia Henotello, deine Mutter.

Brandon wurde unsanft geweckt. Jemand schaltete das Licht ein und stieß hart gegen sein schmales Bett. Desorientiert blinzelte er gegen das grelle Licht und stöhnte.

"Was?"

"Aufgewacht, Junge. Es wird Zeit für dein Willkommensmeeting." Fred stand über ihm. Sein freundliches Lächeln beruhigte Brandon trotz seiner Nacht im Gefängnis. Ungelenk setzte er sich auf, streckte sich und sah sich in seiner Zelle um. Alles war noch so wie letzte Nacht, bis auf Fred, der in sauberen Jeans und einem an den Armen hochgerolltem Flanellhemd vor ihm stand.
In seinen Händen ein Becher mit einer brühende Flüssigkeit darin.

"Hier, Tee. Das sollte dich zumindest ein bisschen wach kriegen."

"Ich bin wach.", meinte Brandon eingeschnappt, nahm dennoch die Tasse entgegen und stand auf. Sein Körper fühlte sich steif an, allerdings hatte er seit Wochen nicht mehr so gut geschlafen. Die Träume von seiner Familie waren zur Abwechslung einmal schön gewesen. Brandon konnte sich denken warum dies der Fall war, immerhin hatte er nun tatsächlich die Chance etwas zu unternehmen, endlich aktiv zu werden.
Der Gedanke daran ließ Adrenalin durch seine Venen rauschen und seinen Geist hellwach werden. Vorsichtig nahm er einen Schluck aus dem Becher und taxierte währenddessen Freds Arme. Ohne dem Mantel waren die Tätowierungen auf Freds Armen deutlich erkennbar. Es waren geschnörkelte Linien, Zahlen und Kreise. Geometrie und Kunst vermischt.
In Bärensteins Regime waren Tätowierungen genauso wie Haarfärbung verboten. Für diese Körperkunst würde Fred, sollte er je gefasst werden, sofort in einem Arbeitslager verschwinden. Natürlich nur wenn niemand von seiner Verbindung zu OneSheep erfuhr. Der Gedanke an die unzähligen Arbeits-und Folterlager schuf Traurigkeit in Brandons Herz. Seine Mutter war ebenfalls in einem dieser Lager, vorausgesetzt sie lebte noch.

"Komm, Junge, ich bring dich zu ihr," Fred ging mit festen Schritten aus der Zelle und Brandon folgte neugierig, ließ seinen Mantel, den Tee wie auch den Seesack in seinem Nachtquartier zurück. Er ging davon aus, das niemand etwas aus einer Gefängniszelle steheln würde. Vor seiner Zelle warteten schon Crow und Flower. Beide sahen ihn unbewegt an. Crow schien seine Kleidung seit gestern Abend nicht gewechselt zu haben, auch die dunklen Augenringe bekräftigen diese Vermutung. Flower band ihr dichtes, dunkles Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz und sah ihn aufmerksam an.

Kyrie- Nebel des KriegesWhere stories live. Discover now