49 | Alles und nichts

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• SYML - The War •

»Sollen wir zu mir gehen?«, frage ich irgendwann. Aber Alec antwortet nicht. Er hat sich nach vorne gebeugt, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln abgestützt und das Gesicht hinter den Händen vergraben, als würde er alles um sich herum ausblenden wollen.

Irgendetwas ist passiert; irgendetwas, dass ihn dazu veranlasst sich selbst die Schuld am Tod seiner Mutter zu geben. Ich will ihn fragen, alles wissen, aber gleichzeitig will ich ihn nicht bedrängen, zu nichts zwingen. Ich will diesen Alec, der so verloren aussieht, beschützen. Ich will, dass er aufhört zu zittern, will diesen verletzlichen Ausdruck in seinen Augen auslöschen, will den Hass aus seiner Stimme ausradieren, aber ich kann nichts sagen oder tun was ihm seine Schuldgefühle abnehmen könnte. In diesem Augenblick fühle ich mich genauso verloren wie er.

Langsam hebe ich den Blick. Ich atme tief ein, so tief, dass die kalte Luft in meinen Lungen schmerzt, nur um überhaupt etwas zu spüren. Alles fühlt sich taub an.

Ich friere, weil es kalt ist, aber diese Kälte ist nichts im Vergleich zu der, die sich in meinen Körper schleicht. Die Kälte, die nichts mit dem Schnee um uns herum zu tun hat. Eine Kälte, die vom Kummer aus Alecs Worten kommt, aus den gesprochenen, aber auch aus den stummen Worten, die er sich nicht zu sagen traut.

Ich klemme meine eingefrorenen Hände zwischen meine Beine und lege den Kopf in den Nacken, beobachte die einzelnen Schneeflocken, die vom Himmel auf die weißen Straßen fallen und dann in der Masse verschwinden. Es ist seltsam was für eine beruhigende Wirkung der Schnee auf mich hat. Ich spüre, wie sich meine Muskeln langsam wieder entspannen, wie das beklemmende Gefühl langsam von mir weicht, und ich frage mich, ob es Alec in diesem Augenblick genauso geht, ob er gerade auch die Schneeflocken beobachtet, und ob sie ihn beruhigen, ob er deswegen nicht reingehen möchte. Wenn ich den Kopf nur ein Stück zur Seite wenden würde, könnte ich-

»Meine Mutter«, sagt er plötzlich leise, so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob er es wirklich gesagt hat. Ich wende den Blick von den Schneeflocken ab und sehe ihn an. Er wischt sich über die Augen und starrt dann auf den Boden. »Meine Mutter hatte einen Traum. Einen einzigen Traum für den sie immer gekämpft hat. Sie wollte Medizin studieren. Eine Ärztin werden, Leben retten, Leid nehmen und Hoffnung schenken.

Als ich noch klein war, hat sie es mir erzählt. Sie sah so traurig dabei aus. Ich habe es gehasst sie so zu sehen, also habe ich gesagt: ›Wenn du keine Ärztin werden konntest, dann werde ich eben Arzt. Für dich.‹ Und dann hat sie gelacht. Sie hat so schön gelacht. Ihre Augen haben dabei immer so geleuchtet. Und man konnte ihre Grübchen sehen. Ich hätte ihr den ganzen Tag dabei zusehen können.« Er lächelt schwach. »Jedes Mal wenn ich dann meine Hausaufgaben nicht machen wollte oder keine Lust auf Schule hatte, hat sie gesagt: ›Wenn du einmal ein Arzt werden willst, musst du zur Schule, Alec. Weißt du, Ärzte machen immer ihre Hausaufgaben.‹ Sie hat mich nicht angeschrien, das hat sie nie, sie hat immer ganz ruhig auf mich eingeredet und ist dabei mit ihrer Hand durch meine Haare gegangen.« Er fährt sich durch die Haare, als wollte er es demonstrieren.

»Sie wollte Tierärztin werden. Als sie klein war, hat sie einen verwahrlosten Hund auf der Straße gefunden. Ihre Eltern sind dann zum Tierarzt gefahren. Er hat dem Hund das Leben gerettet. In den Augen meiner Mutter war dieser Mann ein Held. Von dem Tag an war sie so vernarrt in den Wunsch gewesen, auch einmal so zu werden. Sie hat mir diese Geschichte immer erzählt, wenn ich nicht schlafen konnte.«

Er hebt den Blick und starrt wieder auf die Straße. »Was sie mir nie erzählt hat, war, wieso sie irgendwann aufgehört hat ihrem Traum hinterherzulaufen. Aber heute weiß ich es. Heute weiß ich, dass ich der Grund gewesen bin. Als sie schwanger geworden ist, hat mein Vater sie gezwungen, ihr Studium abzubrechen.

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