38. 🔦Codewort: Leyla🔦

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Der Anruf kommt unerwartet früh am Morgen. Steffi wird von dem neben ihrem Bett liegenden Telefon geweckt, das unentwegt vibriert. Sie schaut mit zusammengekniffenen Augen auf den Namen. Antonia, eine ihrer besten Freundinnen.
"Wenn das nicht wichtig ist, Toni, dann..." Einige Sekunden bleibt es still. "Jaja, bin sofort da."
Steffi ist auf einmal hellwach und zieht sich eilig an.

Ein paar Minuten später trifft sie auf der benachbarten Polizeiwache ein, zu der sie Antonia gerufen hat. Dort wird sie augenblicklich unter die Fittiche der Beamten genommen, die sie in ihr Büro führen, in dem schon Antonia und... Melindas in Tränen aufgelöste Mutter sitzen.
Sofort schrillen Steffis Alarmglocken. "Was ist hier los?"
Alle fangen an, irgendetwas durcheinander zu erzählen, sodass sie kein Wort versteht. Auch den Polizeibeamten wird es bald zu bunt. "RUHE BITTE! Ich weiß, Sie machen sich alle Sorgen, aber so kommen wir auch nicht weiter." Melindas Mutter schnieft. Die nette Polizistin streichelt ihre Schulter. "Alles wird gut. Okay?"
Der andere Polizeibeamte schildert Steffi in aller Kürze, was passiert war. "Heute morgen hat die Frau Elbich einen Anruf bekommen, wobei ihr Telefon stumm geschalten war und der Anrufer somit auf die Mailbox gesprochen hat. Das war Melinda, ihre Tochter, die ihr aufgebracht berichtet hat, dass sie sich verfolgt fühle und dass sie wohl nicht nach Hause kommen könne, weil sie sich nicht traue, anzuhalten. Stattdessen fahre sie zu Freunden. Jetzt kommen Sie ins Spiel. Wir haben uns gedacht, Sie haben möglicherweise etwas von ihr gehört."
Überrumpelt schüttelt Steffi den Kopf, erst langsam und dann entschlossener. "Nein, tut mir leid, ich habe seit gestern Abend nichts mehr von ihr gehört."
"Und das hat Sie nicht gewundert?" Der Polizeibeamte zieht die Augenbrauen hoch.
"Nein, überhaupt nicht, sie war ja gestern auf der Party..." Steffi zuckt mit den Schultern.
"Auf welcher Party denn?", erkundigt sich der Polizist interessiert.
"Na auf der von Paul... Der ist eine Klasse über ihr."
"Und wie heißt der mit Nachnamen?"
"Ähh... Paul... Paul...", stockt Steffi, "Ähh... Fällt mir grad nicht ein."
"Paul Zimmermann!", meldet sich Antonia zu Wort. "Der war mal in sie verschossen!"
"Und was wisst ihr noch zu der Party? Warum wart ihr nicht dort?"
"Naja, eigentlich nichts wirklich. Melinda hat mehr mit dem zu tun als wir. Ich hab' gesagt, ich muss arbeiten und Toni wollte noch lernen." Steffi blickt ihn mit einem freundlichen Lächeln an.
Antonia nickte eifrig. "Ja, genau, ich studiere und jetzt fängt die Klausurenzeit an."
"Achso. Und, könnt ihr uns sonst was über Melinda erzählen?"
"Ja, ähm... Sie ist gern unter Leuten und... Deshalb auch die Party", meint Antonia.
"Feinde?"
"Soweit ich weiß..." Steffi zuckt mit den Schultern. "Aber Melinda ist... Außergewöhnlich, wissen Sie? Sie hat Talent, und sowas zieht natürlich Bewunderer, aber auch Neider an. Wenn wir Bewunderer sind, sind Jenny Preggler und Kiara Neuhofer definitiv Neider."
"Haben Sie die Adresse?"
"Leider nein. Wie gesagt, wir haben nicht viel mit denen zu tun", antwortet Steffi und beißt sich auf die Unterlippe.
"Aber..." Die Mutter steht auf und überreicht der Beamtin einen kleinen Zettel. "Neulich bin ich an Melindas Zimmer vorbei und sie hat gerade telefoniert. Dabei ist diese Adresse gefallen, also hab' ich sie aufgeschrieben. Weil ich schon gerne weiß, wo meine Tochter hingeht und sie wollte es mir nicht sagen. Das kam mir merkwürdig vor."
"Verstehe", murmelt sie und nimmt den Telefonhörer in die Hand. Ein paar Minuten später haucht sie ein freundliches "Ja, danke" in den Telefonhörer und legt ihn genervt auf. Dann wendet sie sich ruckartig den Angehörigen zu. "Haben Sie schonmal etwas von Nils Kemper gehört?"
"Den Namen hab' ich schonmal gehört", meint Antonia und fährt sich mit einer Hand übers Gesicht. "Ich glaube, Melinda hat sich schonmal mit dem getroffen."
"Jetzt aktuell?"
Antonia legt die Stirn in Falten. "Nein, ich glaube nicht."
Steffi stimmt ihr mit einem kleinen Nicken zu.
"Mhh", murmelt die Polizistin. "Dann wird uns erstmal nichts anderes übrigbleiben, als ihm mal einen kleinen Besuch abzustatten." Ihr Kollege nimmt schon den Telefonhörer in die Hand. "Wir schicken dort eine Streife hin und ermitteln erstmal hier weiter."
Die Mutter nickt eifrig.
"Trifft sich ihre Tochter noch mit anderen Leuten? Freunden?"
"Klar, sie ist dauernd auf Partys", teilt Steffi ihnen mit. "Außerdem trifft sie sich öfter mit Max, ihrem Freund, mit Paul, ein Schulkamerad, und mit Nils, den kennt sie auch aus der Schule."
"Und mit uns natürlich", lacht Antonia.
"Wie heißt Max weiter?", hakt der Beamte nach.
"Max Hofenreuther", weiß die Mutter, die sich nun ein wenig beruhigt hat.
"Na, dann werden wir mal den Max Hofenreuther und den Paul..."
"Zimmermann", hilft ihr der Kollege.
"Genau, die beiden werden wir jetzt mal auf die Wache bitten, ob sie etwas über den Verbleib von Melinda wissen."
Antonia nickt. "Hoffentlich."
***
Nach zwei anstrengenden und nervenaufreibenden Stunden, in denen sie auf der Wache von den Polizeibeamten befragt wurden, empfängt Melindas Mutter plötzlich einen Anruf. Und ausgerechnet von Melinda. Den Tränen nahe nimmt sie den Anruf entgegen und stellt ihn auf Wunsch der Polizisten laut.
"Oh Gott, Melinda-Schatz, geht's dir gut? Wo bist du?"
"Alles gut, Mama", ertönt es nach einer Weile aus dem Lautsprecher. "Alles gut. Ich hatte eine Panikattacke, aber jetzt ist alles gut. Das andere Auto ist jetzt weg und ich bin zu meiner Freundin rein. Weißt du, Leyla. Ich hab' dir letztens von ihr erzählt. Hier wart' ich jetzt erstmal 'n paar Stunden, und wenn nichts passiert, komm' ich nach Hause."
"Aber wo bist du, Melinda? Nenn' mir bitte die Adresse!" Aber sie können nur noch ein Tuten hören. Aufgelegt.
"Aufgelegt? Aber... Das passt nicht zu ihr!"
"Versuchen Sie's erneut", rät ihr der Polizist. Die Mutter wählt mit zitternden Händen erneut und führt ihr Telefon zum Ohr. "Aus", ruft sie verzweifelt. "Ihr Handy ist ausgeschalten!"
"Beruhigen Sie sich. Wir müssen die Situation erstmal evaluieren. Im Moment sieht es für mich - ich weiß nicht, inwiefern das meine Kollegin genauso sieht - nicht unbedingt nach einer Straftat aus."
"Aber das passt nicht zu ihr!" Die Mutter macht einen bittenden Gesichtsausdruck und vereinzelte Tränen quellen aus ihren Augen. "Sie müssen mir glauben!"
Der Mann seufzt und schaut zu seiner Kollegin. "Aber wir haben momentan weder ein Hinweis auf eine Straftat noch Anhaltspunkte, wo wir sie suchen könnten."
Die Polizistin stimmt seiner Aussage mit einem Nicken zu. "Ich fürchte, er hat Recht. Im Moment müssen wir davon ausgehen, dass sie überall sein kann."
"Aber sie MUSS in Gefahr sein! Sie hat keine Freundin, die Leyla heißt!" Aufgeregt gestikuliert die Mutter. "Zumindest keine, von der ich weiß..."
Irritiert hält die Polzeibeamtin inne. "Sind Sie sicher? Und wie sieht es mit den Freundinnen aus?"
Die Mutter hebt die Schultern und nickt. "Dieser Name sagt mir nichts."
Antonia und Steffi schütteln beide gleichzeitig vehement den Kopf. "Davon hätte sie uns erzählt."
"Aber..." Antonia überlegt. "Ich habe den Namen erst kürzlich gehört..."
Die Polizisten werden hellhörig. "Können Sie sich erinnern, wann und wo?"
Antonia grübelt weiter. Alle Augen liegen auf ihr. Sekunden fühlen sich an wie Stunden und es ist so leise, dass man das Blut eines jeden rauschen hören könnte. "Ach... Ich weiß es wieder!" Erleichtert blickt sie auf und fängt die neugierigen Blicke auf, die sie zum Erzählen drängen. "Melinda schreibt hobbymäßig Geschichten, vorzugsweise Kriminalromane. Von ihrem neuesten Projekt hat sie mir vor ein paar Tagen ein Manuskript gegeben, weil ich es lesen und gegebenfalls korrigieren soll. Ich hab' erst gestern angefangen, aber es geht um einen Entführungsfall und die Hauptperson davon heißt Detective Leyla Bangley."
Die Anwesenden bleiben erstmal stumm. Als erstes macht die Mutter ein Geräusch, als sie lautstark in Tränen ausbricht.
"Jetzt haben wir zumindest einen Hinweis, dass dies ein versteckter Hilferuf war", meint die Beamtin kühl. "Gibt es wirklich keine andere Person, die so heißen könnte?"
Alle schütteln den Kopf. "Also zumindest fällt mir keiner ein...", murmelt Antonia.
Der Mann setzt sich wieder an seinen Schreibtisch und tippt etwas in den Computer ein. "Da es sich hier ja potentiell um eine Straftat handeln könnte, werden wir jetzt das Handy orten. Falls es noch an ist", erklärt die Polizistin.
***
"Es ist aus", spricht der Polizist leichtfertig die unheilverheißenden Worte aus. "Ich orte jetzt, über welchen Funkmast der letzte Anruf ging."
Die Mutter schluchzt schon wieder leise und Antonia tröstet sie.
"Treffer! Irgendwo hier in der Nähe von Köln. Im Umkreis von 1km um den nördlichsten Funkmast im Stadtteil Hürth."
"Dann müssen wir dort hin!", ruft die Mutter aufgebracht.
"Jaja, immer mit der Ruhe. Wir fahren dorthin. Aber wir müssen noch einen Personenspürhund mitnehmen." Damit fängt der Mann auch schon an zu telefonieren.
Die Mutter schnappt sich ihre Tasche und geht hinaus und auch die Freundinnen sind aufbruchbereit.
"Aber Sie können wir leider nicht mitnehmen. Wir wissen ja nicht, was uns dort erwartet! Das ist viel zu gefährlich. Am besten fahren Sie in ihre Wohnung, wir melden uns, sobald wir weiter sind", meint die Polizeibeamtin bestimmt.
"Aber..." Steffi nimmt Antonias Hand.
"Komm', lass' uns einen Kaffee trinken gehen", sagt Steffi.
"Genau, beruhigen Sie sich erstmal, wir rufen Sie dann an."
***
An der Einsatzstelle angekommen, müssen sie feststellen, dass die Straße von Menschen verlassen scheint, zumindest von lebenden. Melindas Mutter graust es, als sie daran denkt, wie viele Leichen bei Nacht und Nebel schon in die leerstehenden Fabrikgebäude gebracht wurden und dort bis zur Unkenntlichkeit verrottet sind. Und ihre Tochter... Sie ist vielleicht die nächste. Sie kann es kaum ertragen, diesen Gedanken zu denken, und glücklicherweise kann sie es auch gar nicht, weil sie in dem Moment von den Polizisten aus denselben gerissen wird.
An der Straße hier im Industriegebiet stehen, trotz dass alles verlassen wirkt, eine Handvoll Autos.
"Erkennen Sie zufällig das Auto Ihrer Tochter?", erkundigt sich sie Beamtin.
Die Mutter wirft ein näheres Auge auf die Autos. "Ja, ich glaube -" Sie macht ein paar Schritte auf die Autos zu. "Ja, das ist das Auto meiner Tochter!"
"Welcher? Der blaue Škoda?", hakt der Polizist nach.
"Ja!" Eifrig nickt die Mutter.
"Dann muss sie ja hier sein", murmelt die Beamtin und öffnet mit Handschuhen die Fahrertür des Wagens. Überraschenderweise ist er offen.
"Das würde meine Tochter nie vergessen!", versichert die Mutter.
"Kommen Sie mal her", ruft der Mann den Hundeführer, der seinen Vierbeiner mitbringt. "Hier könnten nützliche Gerüche sein", meint er und deutet auf den Sitz mit einigen langen, blonden Haaren.
Nachdem der Hund die Fährte aufgenommen hat, führt er seine Menschen sicher durch die marode Industrieanlage. Vor einem Gebäude stoppt er und schnüffelt erneut. Dann geht er in das Gebäude hinein. Er führt sie eine Treppe hinauf und durch endlose Flure, bis auf einmal aus einem Raum Geräusche zu hören sind. Der Hund spitzt aufmerksam die Ohren, winselt leise und setzt sich. Ein Zeichen, dass die Spur hier endet. Ein rhythmisches Klopfen ist zu hören. Die Polizisten stürmen in das Zimmer und finden es leer - bis auf ein gefesseltes Mädchen mit langen, blonden Haaren. Sie macht zuerst den Eindruck, als sei sie bewusstseinsgetrübt, weil sie keine Angst zu haben scheint. Dann aber hebt sie den Kopf und bemerkt die Polizisten, die ihre Fesseln lösen. "Ich habe gewusst, dass Sie mich finden würden. Ich habe genug Spuren gelegt."
Ein wenig verwundert über ihre Selbstsicherheit schaut der Polizist sie an. "Natürlich." Sie blickt ihm mit einem sehr offenen Blick ins Gesicht, so offen, wie er es nur selten erlebt hatte. Ihre Haare fallen ihr unschuldig über die Schultern und lassen sie jünger aussehen, als sie ist, aber ihre Augen spiegeln eine Tiefe wider, in die zu blicken es sich fühlt, als stürze man in einen Brunnen. Er weiß nicht wirklich, wie er sich verhalten soll in dieser Situation. Die gelernten Beruhigungsfloskeln würden nicht helfen und zudem noch keinen Sinn machen. Auf einmal versteht er, was die Freundinnen gemeint haben mit dem Satz: "Sie ist außergewöhnlich.".
Die Mutter stürmt herein und umarmt erleichtert ihre Tochter. "Zum Glück geht's dir gut", seufzt die Mutter in die Haare ihrer Tochter.
"Alles gut, Mama", antwortet die Tochter unbewegt.
"Kannst du mir erzählen, was passiert ist?", unterbricht ein Polizist die traute Zweisamkeit.
"Also... Ich hab' ja den Notruf bei Mutter auf der Mailbox abgesetzt. Danach hat mich das andere Fahrzeug von der Straße abgedrängt, sodass ich anhalten musste. Diesen Moment hat er genutzt, um in mein Auto zu steigen. Er hat mich mit einem Messer bedroht, dass ich hierher fahren soll."
"Und... Was wollte er mit dir machen, weißt du das? Also, wollte er Rache oder so?"
"Nein, ich... Ich kannte ihn nicht gut. Ich hab' ihn im Internet kennengelernt, aber ich weiß nicht, was er von mir wollte. Ich nehme an, er wollte mich vergewaltigen."
Der Polizist nimmt dies nickend zur Kenntnis und kritzelt etwas auf seinen Notizblock. "Weißt du, ob er noch hier in der Nähe ist? Beziehungsweise kannst du ihn beschreiben?"
Das Mädchen schüttelt den Kopf. "Er hat nichts gesagt, hat mich hier einfach gefesselt und ist gegangen. Aber ich kann ihn beschreiben: Ungefähr 1,80m, kurze, dunkle Haare, eine blaue Jeans, eine schwarze Jacke über einem blauen Shirt und auffällig grell-gelbe Turnschuhe."
"Okay, danke", meint der Polizist lächelnd und entfernt sich.
***
Nach drei Stunden kommt der Anruf, dass die Polizei im Nahbereich jemanden festgenommen hat und Melinda soll zur Täteridentifizierung nochmal kommen.
Als Mutter und Tochter eintreffen, führt ein Polizist sie gleich hinter den Venezianischen Spiegel.
"Ja, das ist er", nickte Melinda. "Definitiv."
"Ja, dann..." Der Polizist kratzte sich an der Nase. "Dann wird er dem Haftrichter vorgeführt, mal sehen, was der dazu sagt."

ALL THAT I AM /empty poetry\Where stories live. Discover now