31. 📙Angeklagt📙

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Eine Gerichtsverhandlung
Heute angeklagt: Die Angst

Papier raschelte, als der Richter seine Zettel zusammen suchte, dann räusperte er sich und klopfte dreimal mit dem Hammer auf sein Pult.
„Sehr geehrte Anwesende, sehr geehrtes Publikum, hiermit eröffne ich die heutige Verhandlung. Der Angeklagte ist M. Angst." Der Richter deutete auf den entsprechenden Tisch, danach wandte er sich auf die andere Seite. „Und hier sitzt der Kläger L. Hoffnung." Er neigte zustimmend den Kopf. „Herr Ankläger, was haben sie gegen den Angeklagten Herrn Angst vorzubringen?"
Stuhlbeine scharrten über den Steinboden, als sich der Angesprochene erhob und seine Krawatte zurecht rückte, ehe er anhob zu sprechen: „Angst hat eine lange Geschichte. Früher hat sie uns vor dem sicheren Tod bewahrt, warnte und schützte uns, aber heute, in unserer zivilisierten Gesellschaft, in dieser für uns günstigen Umwelt, die wir errichtet haben, um uns selbst das bestmögliche Überleben zu sichern, ist sie überflüssig geworden. Jeden Tag erleiden tausende Menschen Panikattacken, haben Angst, ihr Haus zu verlassen und wagen sich nicht in das Café um die Ecke. Und warum das vermeidbare Leid? Weil Herr Angst seine Arbeit zu ernst nimmt. Deshalb klage ich ihn an. Weil er nicht von sich aus verschwindet."
Der Richter neigte verstehend den Kopf. "Und was hat der Angeklagte dagegen zu sagen?"
Herr Angst stand auf, straff und stolz, und zupfte an seinem Anzug, bis er perfekt saß. "Ich mache nur meinen Job. Es ist seit jeher meine Aufgabe, den Menschen vor Gefahren zu bewahren, weil er zu dumm ist, das selbst zu tun..."
"Wie gesagt", ergriff Herr Hoffnung das Wort, sprang auf und unterbrach somit Herrn Angst. "Das ist heute überflüssig und kann nicht mehr als Argument gelten."
"Herr Ankläger", mischte sich der Richter ein und hielt beim Aufstehen seine schwarze Robe fest, damit sie nicht nach vorne fiel. "Setzen Sie sich. Sie sprechen nur, wenn ich es Ihnen sage."
"Entschuldigung", gab Herr Hoffnung kühl von sich und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
Der Richter nickte Herrn Angst zu als Zeichen, dass er nun wieder sprechen könne.
"Ich schütze die Menschen nur und sie haben es mir immer gedankt, wieso können sie es jetzt nicht?"
Der Richter wartete kurz, schien erst nicht zu verstehen, dass dies keine Kunstpause war, sondern der Sprecher tatsächlich geendet hatte. Dann zeigte er auf Herrn Hoffnung und ohne zu zögern fing dieser zu sprechen an: "In den letzten Jahren hat sich mein Job verändert, wissen Sie? Ich habe mehr zu tun und meine Aufgaben sind härter geworden. Aber nichtsdestotrotz erledige ich sie ordnungsgemäß. Nicht wie Herr Angst, der andere als seine persönlichen Marionetten missbraucht."
"Ach, darum geht es hier also wirklich?" Herr Angst erhob sich, seine Stirn kritisch in Falten gelegt. "Sie haben nichts gegen mich persönlich, nur gegen meinen Job, ist es nicht so?"
"Meine Herren, beruhigen..." Der Richter konnte sich nicht durchsetzen, als eine angeregte Diskussion entbrannte.
"Nein, eigentlich nicht. Ich arbeite mit Menschen, die nicht mehr sie selbst sind, die gefangen sind in ihrer Angst. Und daran sind Sie schuld! Sie feilen an den Gitterstäben und Sie festigen und härten den Käfig. Sie tun das nur zu Ihrer eigenen Belustigung!"
"Nein!", schrie Herr Angst, plötzlich gereizt. "Ich tue das, was von mir verlangt wird. Nicht mehr und nicht weniger. Ich habe nie etwas dafür verlangt, ich war immer bescheiden. Nie habe ich jemanden im Stich gelassen."
Kurz war Stille im Gerichtssaal, alle schienen über Herr Angst Worte nachzudenken, dann brach unter den Anwesenden eine Diskussion aus. Da griff der Richter ein, um den Streit zu schlichten.
"Ruhe! Ruhe im Gerichtssaal! Ich behalte mir vor, den Saal räumen zu lassen!", erklang seine fast hysterische, laute Baritonstimme.
Augenblicklich verstummten die Gespräche und alle Blicke lagen auf dem Richter. Er nickte in Richtung von Herrn Hoffnung. "Haben Sie Ihrer Argumentation noch irgendetwas hinzuzufügen?"
Der Ankläger verneinte, raffte seinen Mantel zusammen und setzte sich unterwürfig, in seiner Stimme klang aber eindeutiger Trotz und verletzter Stolz mit.
Der Richter deutete auf Herrn Angst. Der verstand sofort. "Ich finde diese Anschuldigungen äußerst unerhört", empörte er sich. "Hier würde ich gerne wegen Rufschädigung klagen!"
Herr Hoffnung zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
"Herr Angst", antwortete der Richter ruhig. "Sie wussten schon lange von dieser Verhandlung. Ihnen stand es frei, sich einen Anwalt zu suchen. Wenn sie klagen wollen, nur zu, aber ich fürchte, dass es da an Ernsthaftigkeit mangelt." Kurz raschelte er in seinen Unterlagen und sein Mikrofon gab einen leidenden, lauten Ton von sich. Die Anwesenden hielten sich die Ohren zu und einige fluchten. "Überdies wurden Sie laut meinem Unterlagen schon zweimal angeklagt. Einmal von einem... N. Mut wegen Verzerrung von Tatsachen und von einem S. Schuldgefühl wegen unangemessenem Verhalten bei der Zusammenarbeit. So wie es aussieht, haben Sie keine guten Karten."
Herr Angst schnaubte patzig.
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Nach einer Bedenkzeit der Staatsanwältin gab sie ihr Plädoyer ab. "Vorab möchte ich vor allen Anwesenden bekräftigen, dass ich beiden Parteien neutral gegenüberstehe und niemanden einer Vorzugsbehandlung unterziehen werde." Sie räusperte sich. "Die Argumente, die L. Hoffnung vorgebracht hat, sind glaubwürdig und begründet." Ein fast hämisches Lächeln breitete sich auf Herrn Hoffnung's Gesicht aus. "An Herrn M. Angsts Aussage könnten nicht zuletzt wegen seiner fragwürdigen Vorgeschichte Zweifel aufkeimen, die bestimmt nicht unbegründet sind. Doch nichtsdestotrotz liegt hier laut dem Strafrecht kein Verbrechen vor. Herr Angst wird hiermit freigesprochen, da ihm nichts zur Last gelegt werden kann."
Unter Protest von Herrn Hoffnung und einigen anderen Anwesenden klopfte der Richter dreimal mit seinem Holzhammer auf das Pult. Herr Angst lehnte sich selbstgefällig grinsend in seinem Stuhl zurück. "Die Verhandlung ist geschlossen."

***
So, das ist nun einmal eine kreative Form, das Thema Angst und alles, was dazugehört, anzusprechen. Von euch, die ihr das jetzt (wahrscheinlich) gelesen habt, würde ich gern erfahren, ob ihr am Ende unter den Protestlern gewesen wärt oder ganz still dagesessen hättet oder ob vielleicht bei euch bzw. mit euch die Gerichtsverhandlung ganz anders abgelaufen wäre (ihr müsst das nicht begründen!). Gern könnt ihr weitere Argumente für beide Parteien unten in die Kommentare schreiben oder, wenn ihr wollt, auch eure eigene Version hiervon verfassen (: Es wäre lieb, wenn ihr mich dann taggen würdet (:

ALL THAT I AM /empty poetry\Where stories live. Discover now