Kapitel 45

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Wir redeten noch eine Weile über Michael, bevor wir das Thema vorerst fallen ließen und uns der Verteidigung zuwandten. Wie konnten wir die Bewohner Europas besser schützen. Und wie teilten wir die Soldaten ein, damit sie sich nicht verausgabten? Jeder sollte genügend Schlaf bekommen. Nur während eines Angriffs sollten alle bereit sein. 

Am Ende waren wir uns einig. Der Großteil der Soldaten schützt nun den Rand Europas auf allen erdenklichen Seiten. Für die Großstädte standen ebenfalls mehr als genug zur Verfügung. An Soldaten mangelte es nicht. Noch nicht. Doch je länger ein Krieg dauerte, desto weniger gab es, oder? Und sie würden jünger werden. Dieser Krieg musste beendet werden, bevor es Kindersoldaten gab. 

Nach dem Gespräch zogen sich alle zurück. Doch ich hielt Raphael zurück. Fragend sah er mich an. "Wie hast du abgestimmt? Damals?", wollte ich wissen. Mehr aus Neugier. Selbst wenn er dafür war, hatte er sich seitdem verändert. Nun würde er sicherlich nicht mehr für einen Krieg stimmen. 

"Ich habe mich enthalten", antwortete er. Er erklärte, dass die Abstimmung nicht nur unter Erzengeln stattfand. Sondern auch unter anderen ranghohen Engeln. Es gab fünf Enthaltungen. Zwei die dagegen waren. Und der Rest der mehr als 500 Engel war dafür. "Sie haben dafür gestimmt, weil sie es nicht besser wussten. Ich hätte mich nicht enthalten dürfen", sagte er seufzend. 

Fragend sah ich ihn an. Wieso sagte er so etwas? "Ich habe mich enthalten, um Gabriel und Michael zu beschwichtigen. So habe ich es Uriel gleichgetan. Hätte ich mit guten Argumenten dagegen gesprochen, hätten einige sich vielleicht anders entschieden." Er machte sich Vorwürfe, weil er sich enthalten hatte. 

Ich griff nach seiner Hand und schenkte ihm ein sanftes Lächeln. "Das war nicht deine Schuld. Es hätte vermutlich nur das Unvermeidliche hinausgezögert. Irgendwann hätten die Engel trotzdem angegriffen", meinte ich. Gabriel hätte sich nicht aufhalten lassen. Oder einer der anderen, die unbedingt Krieg wollten.

"Und das ist die Vergangenheit", fuhr ich fort. "Wir leben im hier und jetzt. Was bedeutet, ein besseres Leben zu schaffen. Und das tust du." Nun musste er leicht lächeln. "Wir", berichtigte er mich und schmunzelnd verdrehte ich die Augen, bevor wir hinaus gingen. Ins Wohnzimmer, wo wir etwas entspannten. 

Ich hatte einige blaue Flecken vom Training. Doch mittlerweile bekam ich keinen Muskelkater mehr. Und ich war deutlich stärker. Niemals hätte ich gedacht, dass sich das alles so auszahlen würde. Aus einem dünnen Mädchen ist eine starke junge Frau geworden, die sich im Notfall verteidigen konnte. Etwas, worauf ich stolz sein konnte. 

Auch war ich stolz darauf, selbstsicherer geworden zu sein. Als Kind war ich das nicht. Und auch bei Gabriel kam ich mir immer unsicher vor. Cora war dort die, die einen großen Mund hatte. Doch das war nicht mit der Zeit hier zu vergleichen. Sie musste hier nichts heimlich tun. Und Raphael wusste vermutlich, dass ich ihr noch immer alles erzählte. 

"Sie sind hier gelandet." Mit diesen Worten tauchte Raziel im Wohnzimmer auf. Noch immer trug er eine Uniform. Erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass Raziel auch Soldat war, nicht nur Erzengel. Genauso wie Raphael. Beide, so hat er es mir gesagt, wurden zu allererst als Soldaten ausgebildet. 

Raphael, der seinen Arm um mich gelegt hatte, richtete sich verwirrt auf. Und auch ich spitzte nun meine Ohren. Wer war gelandet? Raziel antwortete auf diese unausgesprochene Frage. "Gabriel und Michael. Der Krieg scheint also in die letzte Runde zu gehen." Die zwei waren hier? In Europa? Aber wieso?

"Wenn sie hier sind, dann haben sie keine Bomben mehr. Sie sind verzweifelt", sagte Raphael. "Verzweifelte kämpfen am besten", meinte ich. "Vermutlich haben die Soldaten Angst, was mit ihnen geschieht, sollten sie verlieren." Verzweiflung ist ein guter Kriegstreiber. Wenn man glaubt, nur mit einem Sieg würde es den Familien gut gehen. Und die hatten sicher die meisten Engels-Soldaten; eine Familie. 

Was konnten die Soldaten schon für den Krieg? Oder ihre Familien? Sie waren nur Marionetten in einem Spiel der Anführer. "Sie werden den Krieg nun aggressiver führen", sagte Raziel. Anstatt sich zu setzen, blieb er stehen.

"Sie wollen Europa mit allen Mitteln", ertönte eine Stimme hinter mir. Raphael und ich drehten uns um. Es war Freya. Ihr Haar zu einem Zopf gebunden. Noch immer war es recht lang. Und zum allerersten mal sah ich sie ungeschminkt. Nun wirkte sie fast wie ein Mensch. "Und dann Asien." 

"Darauf können sie lange warten. Meine Armee werden sie nicht schlagen. Dafür ist sie viel zu groß", entgegnete er. Doch ich war mir bei seiner Stimme nicht sicher, ob ich nicht doch Zweifel an seinen Worten hörte. Auch Raphaels Armee war stark. Und sie bekam Unterstützung von Raziel und Uriel. Dennoch gab es Momente, in denen Raphael fast kapituliert hätte.

Gern würde ich auch wissen, woher Raziel solche Informationen immer hat. Spione? Das konnte ich mir kaum vorstellen. Vermutlich hatten seine und Raphaels Leute ihre Augen einfach überall. Es wurde jedoch nicht weiter darüber gesprochen. An der Tatsache, dass sie hier waren, ließ sich laut Raphael sowieso nichts mehr ändern. 

Nachdem Raphael und ich dann noch eine Weile stumm dagesessen haben, ich habe gelesen und er geschlafen, ging ich in das Zimmer von Brooke und den anderen zwei. Skylar saß auf ihrem Bett und sah aus dem Fenster. Ihr braunes Haar fiel offen über ihre Schulter. Sie wirkte sehr jung, auch wenn sie schon Mitte zwanzig war. 

"Wir werden das gewinnen", sagte Skylar, ohne mich anzusehen. Doch gehört musste sie mich haben. Ich schloss die Tür. "Wir müssen es. Ich kann keine Sklavin mehr sein." "Das wirst du auch nie wieder. Ich schwöre es dir. Wir werden dich vor der Gefangennahme beschützen", sagte ich. 

Überrascht blickte sie zu mir. Wir hatten uns nie wirklich angefreundet. Ihr offizieller Status hier war bis vor einer Weile noch 'Sklavin', doch trotz dieser Bezeichnung, hatte Raphael sie schon länger nicht mehr so behandelt. Sie war eine Angestellte. Und bekam angemessenen Lohn, dafür hatte ich mich eingesetzt. 

Raphael habe sie erworben, da war sie siebzehn, erzählte sie plötzlich. Verwundert sah ich sie an. Mit siebzehn? Dann war sie schon eine halbe Ewigkeit hier. "Mein früherer...Besitzer...hat mich geschlagen und benutzt", fuhr sie fort. "Raphael hat mich befreit." Immer hatte ich angenommen, sie mochte ihn nicht. Nie hatte sie gezeigt, dass sie ihn als ihren Befreier wahrnahm. 

"Ich mag weder ihn noch andere Engel, aber ich bin ihm dankbar. Er hat mir nie wirklich wehgetan. Einmal...damals...da habe ich ihn verärgert, obwohl er schon wütend genug war." Ich erinnerte mich lebhaft an diesen Tag. Es war das erste und einzige mal, dass ich geschlagen wurde. Er wollte Skylar treffen. Und ich war dazwischen gegangen.

Doch Raphael hatte sich entschuldigt. Nicht, dass es alles besser machte, doch es war ein Anfang. Er hatte eingesehen, dass es falsch war. Davor und danach habe ich ihn nie wieder jemanden schlagen sehen. Ich will gar nicht wissen, wie wütend er an dem Tag war, um so die Beherrschung zu verlieren. 

"Dafür wollte ich dir noch danken", meinte Skylar und sah wieder hinaus. Gerade als ich etwas sagen wollte, richtete sie sich auf und winkte mich zu sich ans Fenster. Fragend sah ich hinaus, bis ich eine mir bekannte Person entdeckte. Zwei mir bekannte Personen. Erleichtert und glücklich zugleich stand ich auf und ging nach draußen. Dave war hier. Und er lebte noch.

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