Kapitel 6

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Theoretisch wäre ich wahrscheinlich einfach ausgestiegen, doch ich wartete, ob der Engel noch irgendetwas zu sagen hatte. Selbst vor ihm hatte ich mehr Angst als vor Gabriel damals. Ich blickte zu ihm und er öffnete seine Tür.

"Na los, steig aus. Die Tür halte ich dir ganz sicher nicht auf", sagte er und stieg aus. Natürlich würde er das nicht machen, schließlich war ich nur ein Mensch. 

 Schnell schnallte ich mich ab und tat es ihm gleich. Sofort spürte ich die Blicke von anderen Engeln auf mir. Wahrscheinlich bekamen einige von ihnen nicht jeden Tag einen Menschen zu Gesicht. Es kam schließlich auch vor, dass ein Engel keine Sklaven oder Diener hatte. 

 Ich erinnerte mich daran, wie Menschen sich in der Gegenwart von Engeln zu benehmen hatten und sah nach unten, während wir zum Eingang liefen. Wir waren die niedriger gestellte Spezies und das musste man auch sehen können. 

Der Engel hatte die Wahrheit gesagt. Wir kauften wirklich ein. Alles, was im Kühlschrank fehlte. Und das war nicht sonderlich wenig, denn eine menge Leute - oder eher Engel - bedienten sich daraus. Am Ende des kleinen Einkaufsbummels gingen wir Richtung Auto, als mir eine Tüte fast hinunter fiel. Der Engel fing sie jedoch auf, bevor sie den Boden berührte. 

"Danke", sagte ich leise, denn wäre sie aufgekommen, hätte ich die meisten Dinge noch einmal neu kaufen müssen. Dort drinnen war alles ziemlich zerbrechlich. 

Der Engel nickte und trug die Tüte dann bis zum Auto, wo er den Kofferraum öffnete, in denen er eine Tüte nach der anderen abstellte, bis sie alle aus meinen Armen verschwunden waren. Schlussendlich schloss er den Kofferraum und wir beide stiegen ein. Doch anstatt sofort loszufahren, sah er mich eindringlich an. 

"Ich weiß nicht, weshalb ich das jetzt machen werde, aber ich werde dir einen kleinen Rat geben; wenn du bei Raphael überleben willst, dann setz dich nicht für andere ein. Das endet für dich nur schlecht", meinte er. Ich kaute auf meiner Unterlippe, denn das hatte ich schon begriffen. Das Sklavenmädchen hatte es mir deutlich genug gemacht und doch würde ich es wieder tun. 

"Würde ich ihr nicht helfen, würde sie nicht mehr lange leben und das will ich verhindern", sagte ich. Noch hatte ich nicht allzu oft mit normalen Engeln geredet. Gut, die Wachen bei Gabriel hatten auch nie mit uns gesprochen. Weshalb auch? Wir waren Menschen. 

"Wenn das der Fall ist, dann wirst du das nicht verhindern können. Raphael duldet nicht viele Fehltritte", entgegnete er und sah mich an, bevor er stur nach vorne blickte. Das war nichts Neues. Anders war Gabriel auch nicht. Doch im Gegensatz zu Raphael, waren seine Regeln nicht so streng. Dort eine davon zu brechen war eine Kunst gewesen und so gut wie unmöglich. 

"Ich habe schon einige Tode von Dienerinnen gesehen", antwortete er, nachdem ich wissen wollte, ob er aus Erfahrung sprach. Nun sah ich mir den Engel deutlich an, während er fuhr. Ob er schon einmal einen Fehler begangen hat? So wirkte er nicht und wenn Raphael ihm noch immer so blind vertraute, wird es auch nie so gewesen sein. 

"Falls du dich fragst, ob ich schon Fehltritte hatte; so einige. Der Unterschied zu mir ist jedoch, dass ich mit Raphael aufgewachsen bin. Es gibt niemanden, der ihn und seinen Bruder besser kennt als ich." Als er das sagte, war ich überrascht, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wusste nicht, dass Erzengel viel Kontakt mit normalen Engeln hatten. Das war mir neu. 

Woher sollte ich so etwas auch wissen? Wir erfuhren nur das, was sie Menschen wissen lassen wollten. Außerdem war das sowieso nur eine unwichtige Nebensache. Doch nachdem er das ausgesprochen hatte, bin ich still geblieben. 

Stattdessen sah ich aus dem Fenster. Plötzlich konnte ich etwas sehen. Es waren Menschen. Der Engel schien es ebenfalls bemerkt zu haben und wurde immer langsamer, bis er schlussendlich sogar stehen blieb. Er kurbelte ein Fenster runter. Scheinbar wollte er genau wissen, was da vor sich ging. Zugegeben; auch ich war neugierig. 

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