Kapitel 31

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Raphael ließ sein Besteck fallen. Die Stille zog in den Raum. Selbst atmen wirkte für mich nun zu laut. Ich sah zu ihm. Er wirkte geschockt. Als hätte man ihm die neusten Nachrichten gebracht. Aber sie war geflohen. War es da nicht nur eine Frage der Zeit, bis sie sich seinen Feinden anschloss? Weshalb war er so überrascht? Oder wusste er nicht, dass-

"Freya ist tot", entgegnete er. "Raziel hat sie getötet." Ich blickte zu seinem Bruder. Das hatte er ihm erzählt? Dass sie tot war? Deshalb wollte Dave nicht, dass ich Raphael etwas sage. Er wusste von dieser Lüge. Doch das war dumm. Es wäre früher oder später doch aufgefallen. Wie lange dachten sie, würden sie damit durchkommen? 

Langsam schüttelte Raziel den Kopf. "In den Bergen...ich dachte, sie hätte diesen Sturz nicht überlebt, Raphael", versuchte er sich herauszureden. Vielleicht dachte er aber auch wirklich damals, sie sei tot. "Wir haben erst kürzlich erfahren, dass sie es überlebt hat", gab er zu. Vermutlich gaben Gabriel und Michael damit an. 

Langsam stand Uriel auf. Vermutlich wollte er, dass das unter uns hier geklärt wurde. Schlussendlich verließ er den Raum. Wütend sah ich ihm nach. Uriel mag vielleicht gütig sein, aber Taktgefühl hatte er keins. Oder aber Mitgefühl wie es aussieht. Ihn kümmerte das wohl gar nicht. Ihn interessierten nur seine verdammten Soldaten. 

Raziel wollte noch etwas sagen, doch Raphael hob die Hand. "Du bist mein Bruder", sagte er. "Ich habe dir vertraut." Mit diesen Worten verließ auch Raphael den Raum. Nun saßen wir hier nur noch zu dritt. Reumütig trank Dave seinen Saft aus. Ich räusperte mich. 

"Ihr hättet es ihm sagen müssen", meinte ich. Vielleicht Raziel nicht unbedingt, schließlich hing auch sein Kontinent vom Ausgang des Krieges ab, da sie Raziel ebenfalls nicht mochten. Aber Dave? Sie waren beste Freunde und da erzählte man sich alles. Selbst wenn es hart war. Man könnte eine gemeinsame Lösung suchen. 

Aber mit lügen machte man alles nur noch schlimmer. Was, wenn Raphael diesen Krieg nun aufgeben würde, weil er wirklich noch Gefühle für Freya hatte? Ich wollte nicht egoistisch denken, aber was würde aus ihm und mir werden, jetzt wo er weiß, sie ist noch am Leben? Würde er sie zurück wollen?

Keiner hier machte Anstalten, zu gehen. Also stand ich auf. Irgendeiner musste das ja gerade biegen. Und wenn nicht die Männer, dann eben die Frau. Seufzend ging ich zu Raphaels Zimmer und klopfte zögerlich an seiner Tür. Es kam nichts. Erst wollte ich noch einmal klopfen, entschied mich dann jedoch, einfach hinein zu gehen. 

Raphael saß auf dem Bett. Das Gesicht in die Hände gelegt. Langsam ging ich zu ihm. Er hob seinen Kopf nicht, doch ich wusste, dass er mich bereits bemerkt hatte. Vor ihm hockte ich mich hin. Sanft legte ich meine Hände auf seine, bevor ich sein Gesicht von seinen befreite. Er wirkte verzweifelt. 

"Sie lebt", sagte er. Obwohl es mehr wie ein wimmern klang. Ihn so zu sehen, tat mir weh. Ich hasste es, wenn er litt. Und so habe ich ihn noch nie erlebt. War es tatsächlich noch Liebe? In einem meiner Bücher ging es auch um eine Frau, die den Mann liebte, der sie verletzte. War so etwas wirklich möglich?

Ich wusste nicht, was ich sagen soll. Sollte ich ihn trösten? Das konnte man doch nur, wenn man die Person ebenfalls persönlich kannte. Ihm einen Rat geben? Ich atmete tief durch. "Was wirst du jetzt machen?", fragte ich stattdessen. Er konnte den Krieg nicht einfach beenden. Kapitulieren. Das wäre sein Tod. Genauso wie der von Dave und mir. Und Cora - einfach allen, die für ihn gearbeitet haben. Das konnte er nicht wollen. 

"Ich weiß es nicht", antwortete er und sah mich an. "Ich kann sie nicht angreifen, ich-" Doch ich musste ihn einfach unterbrechen. "In dem Krieg geht es nicht um sie. Es geht um Freiheit. Viele würden sterben, sollten Gabriel und Michael gewinnen", entgegnete ich. Freya hatte nichts mit all dem zutun, was gerade geschah. 

Doch Gabriel musste von dieser Sache wissen. Vermutlich wusste das jeder Engel. Und er nutzte es für sich aus. Das konnte er nicht mit sich machen lassen. "Aber wenn sie stirbt-" "Dann ist es eben so, Raphael. Sie hat es verdient." Das waren harte Worte. Und ich erkannte mich selbst in ihnen nicht wieder. Wünschte ich tatsächlich jemandem den Tod? 

Ja, Freya war eine schreckliche Person. Sie hat ihn verletzt, wollte ihn stürzen und nun kämpfte sie auf Seiten seiner Feinde. Doch verdiente sie es, deshalb zu sterben? Ich seufzte innerlich. Der Krieg bringt wohl nur das Schlechteste zum Vorschein.

Geschockt sah Raphael mich an und schubste mich von sich, wodurch ich auf meinem Hintern lande. Vielleicht hätte ich meine Gedanken zu diesem Thema verschweigen sollen. Sie war ihm einst sehr wichtig. "Sag so etwas nie wieder!" Er klang wütend. Aber er kannte mich. Ich hasste es, wenn man mich zu etwas zwang. Und ich konnte sagen, was ich wollte. Ihm musste es nicht gefallen. 

Ich rappelte mich auf. "Warum?", entgegnete ich. Frustriert fuhr ich mir durchs Haar. "Ich verstehe nicht, wie du sie auch noch verteidigen kannst." Jetzt sprang er auf und drückte mich gegen die Wand. "Liebe." Dieses eine Wort zerriss mir mein Herz. Er liebte sie tatsächlich noch. Nach allem, was sie ihm angetan hatte. Ich konnte es nicht verstehen. 

Langsam schüttelte ich den Kopf. Die Tränen konnte ich nur mit Mühe unterdrücken. "Würdest du die Liebe deines Lebens nicht verteidigen, egal was sie macht?", wollte er wissen. Noch immer klang er wütend. Ich schubste ihn fort. Er ließ es zu. Langsam ging ich rückwärts zur Tür. 

"Nein. Ich würde mich nicht einfach so ausnutzen lassen und dann so tun, als ob alles schön gewesen wäre. Das ist keine Liebe", sagte ich. "Das ist krank." Mit diesen Worten ging ich raus und ließ beim Laufen die Tränen rollen. Schnell lief ich in mein Zimmer und zog hinter mir die Tür zu, bevor ich mich auf mein Bett schmiss und weinte. 

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch irgendwann klopfte es an der Tür. "Herein", sagte ich und schniefte, bevor ich mich aufsetzte. Es war Dave. Er setzte sich stumm zu mir und zog mich in den Arm. Erneut musste ich weinen. Wie ich es hasste, wenn ich mich vor anderen nicht zurückhalten konnte. 

"Er will den Krieg auf Europa fixieren. Die anderen dorthin locken, um sehen zu können, wer angegriffen wird", sagte er nach einiger Zeit. Langsam löste ich mich und wischte meine Tränen fort. Raphael wollte den Krieg nach Europa holen? Für Freya? Das würde ein Blutbad werden. Und wieder würden es Zivilisten sein, die darunter leiden müssen. 

Wer würde sie beschützen? Etwa die Soldaten? Wie? Sie konnten es nicht. Die Armeen in Europa kämpfen zu lassen, und zwar nur da, würde Millionen das Leben kosten. Und dabei war die Spezies unwichtig. Sie würden sterben, für einen weiteren, unnötigen Krieg. 

Wir machten uns dann langsam fertig für den Rückflug. Raphael flog nicht bei uns mit. Raziel saß stumm in einer Ecke des Helikopters und sah nach draußen. Ich kannte Raziel gut genug, um zu wissen, dass er allein sich die Schuld gab. Doch dem war nicht so. Jeder hatte Schuld daran. Und Gabriel hatte genau das, was er wollte; uns auseinander gerissen.

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