Studienbeginn (2)

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Nach dem letzten Kapitel komme ich jetzt also zu einem problematischen Aspekt des Studienbeginns, der sich in den letzten Wochen oder Monaten entwickelt hat.

Das Erste, was gesagt werden muss, aber an sich natürlich nicht ein Problem darstellt: Ich bin wohl gerade dabei, mich wieder neu zu verlieben. Die Glückliche ist ein Mädchen, das ich erst gegen Mitte des Semesters kennengelernt habe und mit der ich auch erst noch ein paar Wochen später Nummern ausgetauscht habe. Danach hat es sehr schnell begonnen, dass wir uns regelmäßig geschrieben haben, und das hat sich dann auch ohne Unterbrechung fortgesetzt. Neben einer gemeinsamen Zugfahrt (da unsere Heimwege sich zum Teil decken) gab es aber leider noch keine gemeinsamen Unternehmungen. Ich getraue mich aber auch nicht, etwas vorzuschlagen, da das für mich schon einen sehr großen, wenn auch erwünschten Schritt in "Neuland" darstellen würde, und so glaube ich auch für sie.

Unsere Gespräche sind vereinzelt recht persönlich geworden, bewegen sich die meiste Zeit über aber mit Themen wie Hobbys, Uni, Musik etc. doch auf "normalem" Terrain. Ein Problem ist, dass ich mich ihr gegenüber manchmal ziemlich verschlossen gezeigt habe, vor allem bezüglich vieler Aspekte meiner Vergangenheit, die dieses Buch hier geprägt haben. Ich habe mich definitiv nicht verstellt, aber halt auch nicht wirklich viel erzählt.

Bei vielem scheint es nur natürlich, dass ich davon noch nicht erzählt habe. So bedürfte es beispielsweise auch eines konkreten Grundes, von meiner Grundschulzeit zu sprechen, und dass ich das bisher noch nicht getan habe, ist wohl ganz normal.
Aber auch was Noten betrifft, weiß sie – wie alle anderen – gar nichts von mir. Nicht, dass ich diese für so ein wichtiges Thema halte, dass man darüber geredet haben muss. Aber es gab halt Situationen, in denen es eigentlich natürlich gewesen wäre, darüber zu sprechen. Umgekehrt habe ich nämlich ein einigermaßen klares Bild davon, was für Noten sie am Gymnasium geschrieben hat, und auch ihre Note in der ersten Uniklausur hat sie mir sofort erzählt.

Dagegen habe ich sie sogar angelogen, als sie nebenbei mal nachgefragt hat, ob ich die Note meiner ersten Klausur (in einem Fach, das sie nicht belegt) schon erhalten habe. Und dass ich von einer Prüfung, die wir beide geschrieben haben, die Note schon habe, weiß sie natürlich.

Aus irgendeinem Grund sträubte sich in mir aber alles dagegen, ihr davon zu erzählen, dass ich das Abi als Jahrgangsbester abgeschlossen und auch bei meinen beiden ersten Uniprüfungen Einsen geschrieben habe (wobei die restlichen Klausuren des ersten Semesters wahrscheinlich schwieriger ausfallen werden...). Eigentlich sind das Dinge, auf die ich stolz sein sollte, und die mir auch Freude bereiten; trotzdem verhalte ich mich aber so, als ob ich mich dafür schämte.

Freilich hat sie eher Gründe anzunehmen, dass ich am Gymnasium und auch an der kurzen bisherigen Zeit an der Universität "erfolgreich" war. So habe ich ihr in den letzten Wochen des ersten Semesters meine Lösungen zu den Übungen geschickt, was auch der eigentliche Grund war, unsere Handynummern auszutauschen. Falls sie also darüber nachdenkt, weshalb ich über meine Noten nicht spreche, sollte also die Möglichkeit, dass sie nicht so gut sind, auch mit ihrem Wissen eher unwahrscheinlich erscheinen. Und eigentlich machen zumindest meiner Erfahrung zufolge Leute mit schlechteren Noten nicht oft einen Hehl daraus... wobei man wohl eher sagen sollte, dass es allgemein unter Freunden üblich ist, ohne jede Hemmung über Noten zu sprechen, am Gymnasium sogar allen MitschülerInnen gegenüber.

Ich stelle mir also gerade die Frage, ob mein Verhalten für sie in gewisser Weise nachvollziehbar ist, oder nur Fragen aufwirft. Auch wenn sie ihre gymnasialen Noten als durchschnittlich beschrieben hat und auch ihre erste an der Uni nicht viel mehr als genügend war, und sie also meine Gedanken wohl nicht von ihren eigenen her kennt, schätze ich sie doch so ein, dass sie in der Lage wäre, sich in mich einzufühlen. Nur kann ich mich nicht dazu bringen, mir ihr darüber zu sprechen, auch wenn es ein wichtiger Schritt wäre, damit sie verstehen kann, was in mir vor sich geht.

Die Gründe für mein Schweigen sind aber auch schwierig zu nennen. Zwar habe ich schon in früheren Kapiteln über Noten geschrieben, und auch da war die Situation schon ähnlich, aber jetzt kommen noch mal mehrere Aspekte hinzu: Zum einen wollte ich eigentlich die Rolle des "Strebers" hinter mir lassen. Ich wollte, dass meine neue Umgebung mein "restliches Ich" sieht, dasjenige jenseits der Noten. Die Erfahrung , dass einen gute Noten im Allgemeinen eher uninteressant machen, sitzt wohl immer noch zu tief in mir drin . Auch wenn mir schon viele gesagt haben, dass das nicht stimme, vertraue ich da ihrer Beurteilung nicht so ganz.

Zum anderen ist mein Verhalten vielleicht ein Versuch, den Aufbau des früher beschriebenen Notendruckes zu vermeiden. Dafür spricht vor allem, dass ich meine Noten auch zuhause nicht erzählt habe. Meinen Eltern würde ich sie zwar sicher sagen, aber irgendwie bin ich auch ganz glücklich damit, dass sie zwar nach den Prüfungen nachfragen, wie sie so gelaufen sind, aber nicht die ganze Zeit nachhaken, ob ich schon die Resultate habe. 

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Wahrscheinlich spielte aber der Aspekt des Notendrucks gegenüber meinem neuen Schwarm kaum eine Rolle. Dass ich ihr gegenüber nicht wirklich offen war, lag sicherlich eher an meiner Furcht, für sie an Attraktivität oder Sympathie oder was auch immer einzubüßen. 

Vielleicht habt Ihr bemerkt, dass ich gerade ins Präteritum gesprungen bin. Und das hat sogar einen guten Grund: Während ich dieses Kapitel schon fast fertig, aber noch nicht veröffentlicht hatte, hat sie mich tatsächlich explizit nach meinen Noten gefragt. Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt und ein kurzer, unangenehmer Moment des Schweigens entstand, bevor ich eine ehrliche Antwort gab. Zum Glück schien sie aber nicht wirklich überrascht und zeigte sich auch sehr verständnisvoll, als ich ihr anschließend zu erklären versuchte, weshalb ich nicht von mir aus darüber gesprochen hatte.

Für einmal kann ich also gleichzeitig zu meinen Problemen auch deren Auflösung beschreiben. Dennoch denke ich, dass dieses Kapitel immer noch viel über mich aussagen kann und so hoffentlich auch für Euch interessant ist.

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