Schwer von Begriff

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So schnell meine Auffassungsgabe in den meisten Fächern ist, so lange kann es bei mir gehen, bis ich etwas für andere Offensichtliches erkenne, das zum Beispiel Beziehungen betrifft: Als meine Schwester mit ihrem ersten Freund zusammen kam, ging es einen ganzen Monat, bis ich das so wirklich mitbekam, obwohl sie beide mit mir in derselben Klasse waren!

Es gibt noch mehr Situationen, bei denen ich länger brauche, um sie zu durchschauen, so beispielsweise manche ironische Bemerkungen, obwohl ich doch eigentlich selbst ganz gerne Ironie benutze, und scherzhaft-neckende Kommentare. Schon so viele Male habe ich nach einem solchen nur verwirrt geschaut und vielleicht sogar noch mal nachgefragt, worauf dann oft in seufzendem Tonfall mein Vorname erwidert wurde, dass ich mittlerweile auch so tun kann, als hätte ich etwas, wozu ich mich nicht äußern möchte,  nicht verstanden, ohne dass die anderen allzu schnell Verdacht schöpfen. 

Dies wiederum ist zwar ganz praktisch, doch verpasse ich wahrscheinlich auch recht viel. So ist es gut möglich, dass ich gewisse Andeutungen gar nicht verstände, die ein Mädchen äußern könnte, auch wenn das wahrscheinlich das geringste Problem bezüglich einer Beziehung ist. 

Manchmal ist es aber auch recht peinlich, zum Beispiel, wenn ich einen zweideutigen Witz nicht verstehe, wo man besser nicht nachfragen sollte, was denn gemeint ist. Ich würde mich eigentlich diesbezüglich nicht als naiv bezeichnen, es ist nicht so, dass ich nichts über das Thema wüsste, es dauert einfach wirklich einen Moment zu lange, bis ich den Witz kapiere. 

Was denkt ein Mädchen in einer solchen Situation von mir? Was denken sie und allgemein die Leute um mich herum über mich, wenn ich in solchen Fällen eher etwas dümmlich da stehe? Für dumm halten mich zwar zumindest diejenigen nicht, die mich aus der Schule oder sonst näher kennen, aber vielleicht für naiv? Finden das Mädchen vielleicht sogar etwas "süß" oder eher gar nicht?

So etwas einzuschätzen gehört auch irgendwie zu demselben Problem, wie das anfangs genannte Erkennen von Beziehungen in der Umgebung. Können nicht alle das besser erkennen als ich? Haben nicht alle anderen einen besseren "Spürsinn", bei welchen sie Chancen haben, und wie welches Verhalten auf das andere Geschlecht wirkt?

Vor kurzem habe ich mir also überlegt, ob das irgendwie typisch für "Streber" sein könnte, weil ein Mitschüler von mir erzählt hat, das es Autismus auch in ganz schwach ausgeprägter Form gäbe und dass manche Menschen, die diese Form hätten, sehr gut in der Schule seien. Natürlich habe ich mich aber dann erstmal im Internet über Autismus informiert und bin mir jetzt doch sehr sicher, dass ich nichts von dieser Krankheit abbekommen habe, so sind die meisten meiner Besonderheiten nicht unter den charakteristischen Symptomen für Autismus aufgeführt und umgekehrt sehe ich nur wenige, die auf mich zu treffen. So kann ich, meiner Einschätzung nach, normal gut Mimik lesen, etwas weniger gut vielleicht zwischen den Zeilen, aber trotzdem, es passt einfach nicht. 

Trotzdem würde es mich interessieren, ob ich die beschriebenen Wesenszüge mit vielen anderen schulisch leistungsstarken Personen teile, dann wäre ja vielleicht der "Streberkomplex" gefunden. ;)

Wieder ernsthafter: klar hätte ich gerne eine Erklärung für meine dargelegten "Probleme", doch war ich nach der Recherche doch ganz froh, wahrscheinlich gesund zu sein. Mit diesen Schwierigkeiten muss ich in jedem Falle irgendwie klar kommen, aber leugnen will ich sie gar nicht, denn sie gehören einfach zu mir, machen auch einen Teil von mir aus.

Der StreberkomplexWo Geschichten leben. Entdecke jetzt