Oberflächlichkeit

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Die meisten wollen es nicht sein: oberflächlich. Danach gefragt, auf was man bei potentiellen Partnern achtet, gibt man eher zur Antwort, man schaue auf innere Werte. Klar möchte auch ich dies für mich beanspruchen, doch will ich euch auch meine Zweifel zeigen: Wie oberflächlich bin ich, und kann ich das ändern?

Zuerst möchte ich auf eine Geschichte zurückkommen, die ich schon im dritten Kapitel angesprochen habe: diejenige mit dem übergewichtigen Mädchen, das wahrscheinlich in mich verliebt war. Schon damals, aber auch heute noch habe ich nachgedacht, ob man davon, dass ich ihre Gefühle nicht erwiderte, ableiten kann, dass auch ich zumindest ein wenig oberflächlich bin. Ich bin zum Schluss gekommen, dass man das nicht kann, wenn man zufällig ein Mädchen aus meiner Umgebung auswählen würde, wäre ich ja wahrscheinlich auch nicht gerade in sie verliebt. Trotzdem bleiben starke Zweifel zurück, denn irgendwie kann ich mir schon vorstellen, dass ihre Figur mich daran gehindert hat, Gefühle für sie zu entwickeln. Ist es nicht so, dass ich, wenn ich mir grundsätzlich eine Beziehung mit ihr hätte vorstellen können, und eigentlich sprach von ihren inneren Werten her nichts dagegen, soweit ich diese denn kannte, nach ihren Avancen ganz anders über sie gedacht und mir ausgemalt hätte, wie es wäre, mit ihr zusammen zu sein?

Zwar bin ich mir sicher, dass ich mich in jemanden verliebe, weil ich sie auch freundschaftlich sehr mag und mich sehr gut mit ihr verstehe, doch habe ich immer wieder das Gefühl, dass es wie eine "Schwelle" gibt, die ein Mädchen mit oberflächlichen Werten erreichen muss, um gewissermaßen in die "Auswahl" zu kommen, wo dann innere Werte zählen. Diese Schwelle - wenn es sie denn gibt - ist bei mir, glaube ich zumindest, nicht sehr hoch, aber ich glaube auch, dass sie besteht. Auch wenn sie mehr unterbewusst vorhanden ist, möchte ich trotzdem versuchen, sie zu umreißen: Übergewicht könnte als einziger spezifisch körperliche Eigenschaft zum "Abschreckendem", neben der Größe, dazugehören. Aus irgendeinem Grund kann ich es mir nur schwer vorstellen, mit einem Mädchen eine Beziehung zu führen, die deutlich größer als ich ist, auch wenn ich denke, dass dies eine der Barrieren ist, die überwindbar sind. Ähnlich verhält es sich mit dem Gesicht: Ich merke, dass ich durchaus bei Mädchen sehr markante Gesichtszüge nicht hübsch finde, auch wenn ich zwischen denen, wo ich das Gesicht als grundsätzlich schön empfinde, dann keinen Unterschied mehr mache.

Ich hoffe, dass ihr mir glaubt, dass ich mich bemühe, nicht oberflächlich zu sein, denn für mich ist es sehr hart, so ehrlich zu sein, da ich doch eigentlich so gerne oberflächliche Leute moralisch abwerte. Es tut mir wirklich leid für diejenigen, die von diesen "K.o.-Kriterien" betroffen sind, wahrscheinlich muss auch ich selbst mir leid tun, da einige von ihnen dafür genau die inneren Werte erfüllen dürften, die ich so schätzen würde.

Kann ich diese Schwelle schon dadurch überwinden, dass ich ihrer bewusst bin? Ich denke, dass dem nicht so ist. Es ist einfach eine zu starke Hemmung, ich spüre geradezu, wie tief sie in den menschlichen Genen verankert ist, doch muss ich mich gegen sie auflehnen, wenn ich meinen eigenen Idealen gerecht werden will. Unter anderem ist dies etwas, dass mir meine menschliche Begrenztheit aufzeigt und vielleicht sogar den Wunsch nach einem Gott weckt, der perfekt nur auf innere Werte achtet, auch wenn ich doch eigentlich gar nicht an ihn glaube. (Was auch nicht widersprüchlich sein muss, denn nur, weil es toll wäre, wenn es Gott gäbe, macht ihn das aus meiner Sicht nicht wahrscheinlicher.)

Sind wir also alle oberflächlich, nur manche mehr und offensichtlicher, und andere weniger? Oder bin ich so eine seltsame Person, die es ist, obwohl ich es nicht sein will und es auch Menschen gibt, die von Oberflächlichkeit wirklich frei sind?

Sicher bin ich mir eigentlich nur, dass ich mir die eigene Oberflächlichkeit nicht komplett einbilde, wenn auch vielleicht etwas dramatisiere, schließlich mache ich zwischen den allermeisten Mädchen keinen Unterschied wegen dem Aussehen. Hoffe ich zumindest. Außerdem muss ich mir eigentlich gar nicht so sicher sein, dass ich alle übergewichtigen Mädchen schon mal grundsätzlich zurückweisen würde, immerhin gibt es in meinem Freundeskreis kein Mädchen, dass ich wirklich als übergewichtig beschreiben würde. Dass ich jemanden aber gut kenne, gehört viel eindeutiger zu den Voraussetzungen, dass ich mich verliebe. Trotzdem, das Gefühl, dass diese Schwelle besteht, bleibt, auch wenn es wahrscheinlich in der Realität viel komplizierter ist...

Außerdem gibt es noch eine weitere Hoffnung, mit der ich mein Gewissen beruhigen kann, wenn auch zu unrecht, möglicherweise: Kann vielleicht nicht "die Richtige" diese Barriere überwinden, mir den Kopf verdrehen, auch wenn sie eigentlich ein paar in der Tat unwichtige Eigenschaften hat, eben z.B. mollig ist? Andernfalls wäre ich dieser Person gegenüber genau so, wie ich es mit Sicherheit nicht sein will. Wenn man denn diese Situation zum Kampf zwischen menschlicher Fehlbarkeit und der Macht der Liebe dramatisieren will, werden wohl die meisten darauf hoffen, dass die Liebe gewinnt, schließlich könnte man ja andernfalls durch Dummheit seine große Liebe verpassen.

Und schon wieder drängen mich an dieser Stelle meine Gedanken zu Gott, denn muss nicht eine höhere Macht existieren, welche die Liebe erschaffen hat, damit diese obsiegen kann? Oder kann doch Liebe stärker sein als die Schwäche des Menschen, auch wenn die Liebe nur durch diesen besteht? - Ich weiß es nicht...

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