16.Kapitel-Sprache unserer Sonne|2

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Ich steige die Stufen zu dem Steg hinauf und gehe ihn entlang. Mit  den Fingerspitzen streiche ich dabei über die Buchrücken der Bücher, die  sich auf Hüfthöhe befinden. Wahrscheinlich könnte ich das den ganzen  Tag machen. Einen Spaziergang zwischen tausenden von Seiten und  Millionen von Buchstaben. Im hinteren Teil der Stege, wo mich von unten  niemand sehen kann, setze ich mich hin und lehne mich mit dem Rücken an  das Geländer. Genau hinter mir erhebt sich ein riesiges Fenster, durch  das ich den Bereich zwischen Wald und Stadt sehen kann. Ich erkenne den  Weg, den wir mit den Laternen entlanggegangen sind und wenn ich meinen  Hals nach hinten lege und ein wenig drehe, sehe ich auch die ersten  Häuser. Über dem ganzen Land liegt heute grauer Nebel. Es sieht aus, als  wären nicht nur die Menschen erschöpft von letzter Nacht. Ich ziehe den  Schlüssel hervor. Ich habe extra ein Kleid angezogen, dass in den  Röcken versteckt eingenähte Taschen besitzt. Der Schlüssel fühlt sich  kühl in meiner Handfläche an, auf der ich bei genauem Hinsehen noch  immer gebogene rote Abdrücke meiner Fingernägel erkennen kann. Zu  welchem Schloss passt er? Was wenn Alessija bemerkt, dass er nicht mehr  da ist? Wie von selbst wandert meine Hand zu meinem Hals. Ich habe mir  einen Schal umgebunden, um die Abdrücke zu verdecken, aber die Schmerzen  fühle ich natürlich trotzdem. Ich lehne mich vor und greife blindlinks  nach einem Buch. Ablenkung habe ich dringend nötig. Ich betrachte den  Umschlag. Er ist aus grobem Leder und der Titel ist in sorgfältigen  Druckbuchstaben eingraviert. Laith haûl. In kleineren Buchstaben darunter lese ich die Übersetzung, oder jedenfalls glaube ich das. Sprache unserer Sonne.

Mein Herz macht vor Aufregung einen kleinen Sprung. Das ist  ein Buch über die Sprache hier. Die Sprache der Lieder. Mit zitternden  Händen schlage ich die erste Seite auf und beginne zu lesen. Auf den  ersten paar Seiten geht es um die Entwicklung der Sprache, die hier wohl  wirklich einfach nur Sprache unserer Sonne genannt wird. Wenn  ich ehrlich bin, verstehe ich nicht sehr viel von dem, was geschrieben  wurde. Bei dem Rest des Buches handelt sich um die Grammatik, die  Betonung und Schreibweise, und eine scheinbar endlos lange Liste von  Vokabeln, die nach dem Alphabet geordnet sind. Ich lese immer weiter und  versuche mir alles so gut wie möglich einzuprägen. Ich will diese  Sprache können, das wusste ich schon die ganze Zeit über. Aber dazu wird  es mehr Zeit brauchen, als ich dachte. Es ist komplizierter und  umfangreicher, als vermutet. Schließlich, als durch die Fenster nur noch  schwaches Licht in den Raum gelangt und mein Kopf sich unglaublich  schwer anzufühlen scheint, packe ich das Buch kurzerhand ein. Ich werde  mich die nächsten Tage weiter damit beschäftigen.

Die Gänge sind wieder einmal verlassen. Langsam beginne ich mich  wirklich zu fragen, was alle den ganzen Tag gemacht haben. Meine  Schritte hallen viel zu laut von den kalten Wänden wieder und ich laufe  unwillkürlich schneller. Und dann höre ich es. Ich weiß sofort, was es  ist. Ich schließe die Augen, wie erstarrt stehe ich hier und warte ab.  Er schreit nicht, das hat er noch nie. Nur hin und wieder höre ich, wie  er vor Schmerz aufstöhnt. Und mit jedem einzigen Aufschlag auf dem Boden  und jedem einzigen wutverzerrten Knurren seines Vaters zieht sich mein  Magen ein Stück weiter zusammen. Ich spüre, dass ich weine, aber dennoch  kann ich mich einfach nicht rühren. Ich fühle mich, wie eine  Verräterin. Zu feige, um ihm zu helfen. Oder zu vernünftig. Ich kann  gegen Andonis nichts ausrichten. Und wer weiß, vielleicht würde er  Jayden noch härter bestrafen, wenn er wüsste, dass ich Bescheid weiß.  Irgendwann schlägt eine Tür zu, innerhalb des Raumes. Es ist ein anderer  Raum als sonst. Mitten in dem sonst so belebten Trakt des Schlosses.  Anscheinend wiegt sich Andonis heute so sehr in Sicherheit, dass er es  nicht für nötig hält seine Taten zu verstecken. Hier ist ja niemand, der  es bemerken könnte. Niemand, außer mir. Ich presse das Buch mit beiden  Händen an mich, als wäre es mein Anker, der mich hier hält. Langsam  lasse ich es sinken, öffne die Augen und gehe zur Tür. Mit einem Knarzen  öffnet sie sich und ich trete ein. Der Raum ist groß, aber so gut wie  leer. Ich nehme an, es ist ein ausgeräumtes Gästezimmer. In einer Ecke  steht ein Bettgestell, aber ohne Matratze. Die Vorhänge blähen sich vor  den geöffneten Fenstern auf und in dem schummrigen Licht der  untergehenden Sonne kann ich die herumwirbelnden Staubkörner erkennen.  In einer Ecke des Zimmers, neben dem Bettgestell, liegt eine  zusammengekauerte Gestalt. Jayden hat die Beine an seinen Körper gezogen  und seine Arme verdecken sein Gesicht. Jeder Trottel hätte ihm ansehen  können, dass er unerträgliche Schmerzen erleidet. Seine schwarze Hose  ist staubbedeckt und auf dem weißen Hemd haben sich rote Flecken  gebildet. Durch die Leere des Raumes hallen meine Schritte schrecklich  laut durch den Raum, aber Jayden regt sich nicht. Vorsichtig trete ich  zu ihm und lasse mich auf den Boden sinken. Er hat mir den Rücken  zugewandt, sein Atem geht flach. Durch den dünnen weißen Stoff kann ich  die Abdrücke seiner Schulterblätter und Wirbelsäule erkennen. Er zieht  sich vor Schmerz zusammen. Ich kann nicht genau sagen, ob es sich um  seelische oder körperliche handelt. Vermutlich beides. Ich strecke  vorsichtig meine Hand aus und lege sie auf seine Schulter. Er zuckt  nicht einmal zusammen.

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