Ich steige die Stufen zu dem Steg hinauf und gehe ihn entlang. Mit den Fingerspitzen streiche ich dabei über die Buchrücken der Bücher, die sich auf Hüfthöhe befinden. Wahrscheinlich könnte ich das den ganzen Tag machen. Einen Spaziergang zwischen tausenden von Seiten und Millionen von Buchstaben. Im hinteren Teil der Stege, wo mich von unten niemand sehen kann, setze ich mich hin und lehne mich mit dem Rücken an das Geländer. Genau hinter mir erhebt sich ein riesiges Fenster, durch das ich den Bereich zwischen Wald und Stadt sehen kann. Ich erkenne den Weg, den wir mit den Laternen entlanggegangen sind und wenn ich meinen Hals nach hinten lege und ein wenig drehe, sehe ich auch die ersten Häuser. Über dem ganzen Land liegt heute grauer Nebel. Es sieht aus, als wären nicht nur die Menschen erschöpft von letzter Nacht. Ich ziehe den Schlüssel hervor. Ich habe extra ein Kleid angezogen, dass in den Röcken versteckt eingenähte Taschen besitzt. Der Schlüssel fühlt sich kühl in meiner Handfläche an, auf der ich bei genauem Hinsehen noch immer gebogene rote Abdrücke meiner Fingernägel erkennen kann. Zu welchem Schloss passt er? Was wenn Alessija bemerkt, dass er nicht mehr da ist? Wie von selbst wandert meine Hand zu meinem Hals. Ich habe mir einen Schal umgebunden, um die Abdrücke zu verdecken, aber die Schmerzen fühle ich natürlich trotzdem. Ich lehne mich vor und greife blindlinks nach einem Buch. Ablenkung habe ich dringend nötig. Ich betrachte den Umschlag. Er ist aus grobem Leder und der Titel ist in sorgfältigen Druckbuchstaben eingraviert. Laith haûl. In kleineren Buchstaben darunter lese ich die Übersetzung, oder jedenfalls glaube ich das. Sprache unserer Sonne.
Mein Herz macht vor Aufregung einen kleinen Sprung. Das ist ein Buch über die Sprache hier. Die Sprache der Lieder. Mit zitternden Händen schlage ich die erste Seite auf und beginne zu lesen. Auf den ersten paar Seiten geht es um die Entwicklung der Sprache, die hier wohl wirklich einfach nur Sprache unserer Sonne genannt wird. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich nicht sehr viel von dem, was geschrieben wurde. Bei dem Rest des Buches handelt sich um die Grammatik, die Betonung und Schreibweise, und eine scheinbar endlos lange Liste von Vokabeln, die nach dem Alphabet geordnet sind. Ich lese immer weiter und versuche mir alles so gut wie möglich einzuprägen. Ich will diese Sprache können, das wusste ich schon die ganze Zeit über. Aber dazu wird es mehr Zeit brauchen, als ich dachte. Es ist komplizierter und umfangreicher, als vermutet. Schließlich, als durch die Fenster nur noch schwaches Licht in den Raum gelangt und mein Kopf sich unglaublich schwer anzufühlen scheint, packe ich das Buch kurzerhand ein. Ich werde mich die nächsten Tage weiter damit beschäftigen.
Die Gänge sind wieder einmal verlassen. Langsam beginne ich mich wirklich zu fragen, was alle den ganzen Tag gemacht haben. Meine Schritte hallen viel zu laut von den kalten Wänden wieder und ich laufe unwillkürlich schneller. Und dann höre ich es. Ich weiß sofort, was es ist. Ich schließe die Augen, wie erstarrt stehe ich hier und warte ab. Er schreit nicht, das hat er noch nie. Nur hin und wieder höre ich, wie er vor Schmerz aufstöhnt. Und mit jedem einzigen Aufschlag auf dem Boden und jedem einzigen wutverzerrten Knurren seines Vaters zieht sich mein Magen ein Stück weiter zusammen. Ich spüre, dass ich weine, aber dennoch kann ich mich einfach nicht rühren. Ich fühle mich, wie eine Verräterin. Zu feige, um ihm zu helfen. Oder zu vernünftig. Ich kann gegen Andonis nichts ausrichten. Und wer weiß, vielleicht würde er Jayden noch härter bestrafen, wenn er wüsste, dass ich Bescheid weiß. Irgendwann schlägt eine Tür zu, innerhalb des Raumes. Es ist ein anderer Raum als sonst. Mitten in dem sonst so belebten Trakt des Schlosses. Anscheinend wiegt sich Andonis heute so sehr in Sicherheit, dass er es nicht für nötig hält seine Taten zu verstecken. Hier ist ja niemand, der es bemerken könnte. Niemand, außer mir. Ich presse das Buch mit beiden Händen an mich, als wäre es mein Anker, der mich hier hält. Langsam lasse ich es sinken, öffne die Augen und gehe zur Tür. Mit einem Knarzen öffnet sie sich und ich trete ein. Der Raum ist groß, aber so gut wie leer. Ich nehme an, es ist ein ausgeräumtes Gästezimmer. In einer Ecke steht ein Bettgestell, aber ohne Matratze. Die Vorhänge blähen sich vor den geöffneten Fenstern auf und in dem schummrigen Licht der untergehenden Sonne kann ich die herumwirbelnden Staubkörner erkennen. In einer Ecke des Zimmers, neben dem Bettgestell, liegt eine zusammengekauerte Gestalt. Jayden hat die Beine an seinen Körper gezogen und seine Arme verdecken sein Gesicht. Jeder Trottel hätte ihm ansehen können, dass er unerträgliche Schmerzen erleidet. Seine schwarze Hose ist staubbedeckt und auf dem weißen Hemd haben sich rote Flecken gebildet. Durch die Leere des Raumes hallen meine Schritte schrecklich laut durch den Raum, aber Jayden regt sich nicht. Vorsichtig trete ich zu ihm und lasse mich auf den Boden sinken. Er hat mir den Rücken zugewandt, sein Atem geht flach. Durch den dünnen weißen Stoff kann ich die Abdrücke seiner Schulterblätter und Wirbelsäule erkennen. Er zieht sich vor Schmerz zusammen. Ich kann nicht genau sagen, ob es sich um seelische oder körperliche handelt. Vermutlich beides. Ich strecke vorsichtig meine Hand aus und lege sie auf seine Schulter. Er zuckt nicht einmal zusammen.
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Lights of our world
FantasyEr musste die Mauer wieder aufbauen. Denn wenn sie es wüsste, würde sie sterben. Und das war das Einzige, was ihn stark genug machte, um zu bauen, bauen bauen. Zwei Welten. Völlige Gegensätze. Hunger, Tod und Grausamkeit, gegen Leben, Freude und Ma...