61 Kapitel

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Bastian P.o.V

"Sad Story Alter", kommentierte Damon meinen Bericht. "Das kannst du laut sagen", langsam lief ich durch ein kleines Waldstück. Die kühle Luft fror immer weiter mein Gesicht ein, doch ich merkte es kaum. Meine eiskalten Finger umklammerten krampfhaft das Smartphone, während ich verzweifelt versuchte ruhig zu werden und aus meinem besten Freund was sinnvolles rauszubekommen. Bislang hatte ich da wenig Erfolg.

"Krass Mann", stieß er jetzt hervor und ich sah förmlich vor mir, wie seine grauen Zellen zu arbeiten begannen. "Komm schon. Du willst Arzt werden. Was hältst du von meiner Idee?" "Arzt ist nicht gleichzusetzen mit Seelenklempner", stellte er nüchtert fest. "Damon!" "Jaja, ich denke doch schon. Man, da hat man einmal frei und dann das." Seine Worte waren hart, sein Tonfall gutmütig. Er war nie wütend wegen irgendwas. Generell war er eher der ausgeglichene Typ, den nichts auf die Palme bringen konnte. Er war wie ein alter Hippie von nebenan. Ihn konnte selten was erschüttern. Kurz darauf hörte ich Schlürfgeräusche und dann Finger, welche auf eine Tastatur einschlugen. "Also hier in der Nähe gibt es eine süße Schule. Sieht ganz nett aus", erklärte er schließlich. "Privatschule. Wenig Schüler. Wäre doch optimal, oder?" "Das weiß ich alles schon." Frustriert bliebt ich stehen und zog meine linke Hand aus der warmen Jackentasche. Flink legte ich mein Handy in diese Hand und wärmte meine rechte Hand nun auf. Kälte war definitiv nicht meins!

"Ich will von dir nur wissen, ob du mir helfen wirst! Alleine packe ich das nicht." "Sie ist deine Schwester und kein verdammtes Projekt", entgegnete er leicht vorwurfsvoll. "Ist das ein ja?" Hoffnungsvoll schaute ich in den bewölkten Himmel. "Ja, verflucht, ja. Hauptsache du hörst auf zu nerven!" "Danke! Du bist der Beste." "Ja, ich weiß. Und jetzt hör auf mich imaginär abzuknutschen." "Idiot." "Wer braucht meine Hilfe?" "Jaja." "Jaja großer Herrscher und Meister!" Allmählich trieb er es echt zu weit. "Jaja großer Herrscher und Meister! Vor dir niederknien werde ich aber nicht!" "Das kommt auch noch", bemerkte er trocken und schmatzte mir munter weiter in den Hörer. "Isch wüde ihr aer erschtmal nischts dapfon erzähn. Fu vil Schock auf einmal." "Damon. Dein Hunger in allen Ehren aber ich habe nichts verstanden." "Doch, das hast du sehr wohl", sprach er nun wieder verständlich. "Stimmt, ich bin ja Kummer gewöhnt. Aber ehrlich, gewöhn dir mal die ganze Scheiße ab." "Du klingst schlimmer als meine Mutter!" "Gern geschehen. Irgendjemand muss dich ja erziehen!"

Danach hörte ich erstmal nur seine Essensgeräusche. "Soll ich einen Flug für euch buchen?" "Nein, das habe ich schon gemacht. Es wäre nur toll, wenn du mir einen Rückflug für in drei Wochen buchen könntest. Ich muss das Haus ja auch noch auflösen und da habe ich Semesterferien." "Wird erledigt. Noch etwas?" Was würde ich nur ohne diesen Typen tun? "Ja, räume mal etwas auf. Ich wette, es sieht grausam bei uns aus." "Gar nicht war", protestierte er halblaut. "Ich kenne dich leider etwas zu gut! Lügen funktioniert nicht", lachte ich. Ich vermisste diesen Idioten und seine Leichtigkeit. "Ich weiß", gab er gutmütig zu. Er war wie ein offenes Buch mit lauter verknitterten und kaum lesbaren Seiten. Eine Sache, die man einfach hinnehmen musste.
"Naja, ich muss jetzt zurück. Tschau." "Bye und grüß deine Sis mal von mir." Grummelnd legte ich auf und machte mich auf den Rückweg.

Die kalte Luft ließ meinen Atem kondensieren und langsam spürte ich die Kälte in meinen Zellen. Mein warmer Atem ließ kleine Wolken entstehen. Bald würden wir hier weg sein. Bald würde ich meine Schwester aus dieser Hölle komplett befreit haben. Bald.
Gedanken verloren stieg ich in mein Auto und fuhr gemächlich los. Es war nichts los, so weit raus war ich gefahren. Ich wollte einfach meine Ruhe haben und genau die habe ich auch bekommen. Mit gerade einmal 50 km/h tuckerte ich über die breite Straße. Komplett automatisch steuerte ich den Wagen Richtung Heimat. Es kam mir vor wie gestern, als ich das letzte Mal hier lang gefahren bin. In Wirklichkeit war es Jahre her. Früher war ich oft hier. Immer wenn ich mal eine Auszeit brauchte, fuhr ich hierher. Der Wald, wo ich eben war, war an sich ein beliebter Ort für Jogger und Naturliebhaber, doch wenn man die richtigen Orte kannte, konnte man durchaus seine Ruhe dort haben.

Wie von selbst fand mein Unterbewusstsein den Weg zur Schule. Ich wollte anhalten um meine kleine Schwester einzusammeln, doch dann fiel mir ein, dass sie aktuell gar nicht zur Schule ging. Grimmig biss ich die Zähne aufeinander und umklammerte das Lenkrad krampfhaft. Das alles war nur passiert, weil unser Vater ein Arschloch war und ich die Augen immer abgewandt hatte. Was man nicht sah, war nicht real. Leider trifft dies selten zu. Dämonen, Geister und Teufel gab es tatsächlich und sie waren näher als man denkt.

Trotz meiner negativen Gedanken, steuerte ich mein Fahrzeug auf eine freie Parklücke zu und parkte es geschickt ein. Gezwungen lässig stieg ich aus und schaute mich um. Schüler schauten mich aus den Klassenzimmern neugierig an, doch ich ignorierte ihre Blicke gekonnt auf meinem Weg in das wuchtige Gebäude rein. Ich machte gerne schnell Nägel mit Köpfen und dies war mein erster Eingriff in Sams Leben: Ich wollte sie von der Schule abmelden.

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt