22 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Der nächste Morgen begann nicht gerade vielversprechend. Lucas hatte mir über Nacht gefühlte tausend Nachrichten geschrieben, welche ich alle ignoriert hatte. Und mein Vater meinte eine Wiedergutmachung zu erwarten. Schließlich hatte er gütiger Weise diesen Brief unterschrieben. Also hatte er mich kurzer Hand als menschlichen Boxsack benutzt. Und heute Morgen war ich dann mit höllischen Rückenschmerzen und eine, brummenden Kopf aufgewacht. Auch meine linke Schulter schmerzte heftig, da ich auf die Tischkante gefallen war. Es war ein Fehler gewesen mir Essen aus der Küche holen zu wollen. Und irgendwas sagte mir, dass dieser Tag noch schlimmer werden würde. Zum einen beschloss mein Erzeuger, dass er heute mal wieder bei seiner Firma vorbeischauen würde. Allerdings würde ich mein ganzes Taschengeld, welches eh nicht viel war, drauf verwetten, dass er durch einen seiner Kumpels mitbekommen hatte, dass die Presse heute mal antanzen würde. Schon seit mehreren Monaten hatten sie meinen Vater auf dem Kicker und suchten nur nach irgendwas negativem. Doch gefunden hatten sie noch nichts. Wie auch? Ich meine, ich interessiere eh keinen. Da er genügend Leute hatte, die seine Arbeit machten, musste er selbst eh kaum präsent sein.

Wie eine Schnecke packte ich meine Sachen für die Schule, zog mir irgendwelche, und ich meine wirklich irgendwelche, Klamotten an und dackelte dann in die Küche. Auf dem Weg nach unten, schaute ich kurz in den großen Spiegel im Flur. Ich trug ein rotes Shirt mit der Aufschrift "Save the planet, kill the People" und einem Baumaufdruck und eine schwarze Hose mit Löchern. Grausame Kombination, aber was soll es. Hübscher würde ich eh nicht werden. Da ich allerdings keinen Hunger hatte, trank ich nur ein Glas Wasser, nahm meine Jeansjacke und schnappte mir dann meinen Autoschlüssel. Und so fuhr ich so langsam wie es ging zur Schule.  Und trotzdem kam ich pünktlich. Das hatte gestern leider auch nicht funktioniert.
Leider.
Ich hatte gehofft, ich würde zu spät kommen. In der ersten Stunde hatten wir eh nur Mathe. Ich meine, wer brauchte schon Umkehrfunktionen? Hallo, dass würden wir später eh nicht mehr gebrauchen. Und verstehen tat ich eh kaum was. Für mich war es eher eine Ratestunde.

Vor der Schule stand auch schon Elli. Wartete sie etwa auf mich? Stirnrunzelnd stieg ich aus und schlich unmotiviert auf sie zu. Jeder einzelne Schritt tat höllisch weh, aber ich hoffte, dass man mir das nicht ansah. "Samantha Duncan", wurde ich laut von ihr begrüßt. Übertrieben hob sie ihren Arm und fuchtelte wild umher. Als könnte ich sie übersehen. "Was denn", fragte ich müde und folgte ihr in die Schule. "Du kommst ein Minute zu spät! Wir wollten uns zehn Minuten vor Schulbeginn treffen. Und jetzt sind es neun Minuten davor", lehrte sie mich. Ob ich sie daran erinnern sollte, dass sie bei unserem ersten Treffen auch zu spät kam? "Du hast auch Probleme", seufzte ich stattdessen. Ich könnte echt etwas Ruhe vertragen. "Ich weiß", erwiderte sie stolz und legte ihren Arm über meine Schultern. Warum mussten alle Menschen nur auf Körperkontakt stehen? Vor Schmerz verzog ich mein Gesicht und musste mir einen kleinen Schrei verkneifen. Elli bemerkte dies nicht. Ungerührt hüpfte sie neben mir her, wobei sie sich immer wieder auf mich abstützte. Danke aber auch.
Sie weiß doch gar nicht, das du verletzt bist.
Jaja, aber sagen werde ich es ihr auch definitiv nicht.

"Kommst du", riss mich Elli aus den Gedanken und zerrte mich in die Klasse. Wieso fragte sie mich andauernd etwas, wenn sie mich eh mit sich mit zog? Dort waren, leider Gottes, auch Lucas und Leon. Leon haute sofort zu seiner geliebten Hannah ab, die kurz vor uns rein gekommen war. Anscheinend hatte er keine Lust auf uns. Und Lucas? Tja. der kam geradewegs auf uns zu. "Na, was geht", fragte er lässig und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Ich schwieg. Sollte Elli doch antworten. Reden war schließlich ihr Hobby. "Was habt ihr am Wochenende gemacht", er fragte zwar uns beide, doch er schaute nur mich an. Und das Wochenende war auch gerade mal vier Tage her. Also war sein Gehirn über Nacht noch kleiner geworden als es ohne hin schon war. Grandios. Das versprach ein toller Tag zu werden. "Was haben eure Eltern zu den Briefen gesagt", fragte er ungerührt weiter. Ich schwieg. Elli lachte und reagierte zum ersten Mal auf seine Fragerei. "Meine haben mürrisch unterschrieben", erzählte er weiter. Ich schwieg. Merkte er nicht, dass wir keine Lust auf ein Gespräch mit ihm hatten? Elli erbarmte sich schließlich und antwortete lachend: "Bei dir sind sie es ja auch schon gewohnt, was? Meine haben aber auch unterschrieben. Begeistert waren sie allerdings nicht. Kann ich ihnen auch nicht verübeln." Sie grinste breit und klopfte mir schon wieder auf die geschundene Schulter.
Sag ihr, dass du Schmerzen hast.
Never ever in a million years. Eher würde ich einen Besen essen, anstatt irgendjemanden meine Schwäche zu offenbaren. Missmutig schaute ich Lucas an, dann stiefelte ich am den beiden vorbei in den Klassenraum.

"Warum hast du ihm nicht geantwortet", fragte Elli und beugte sich über den Tisch zu mir rüber. Sie saß heute eine Reihe hinter mir. Eigentlich hatte der Unterricht auch vor ein paar Minuten angefangen, doch irgendwie hatte sie das nicht mitbekommen. Auf ihre Frage hin, zuckte ich nur mit den Schultern. "Sag mal, kannst du nicht mehr reden", fragte sie nun leicht genervt und schaute mich misstrauisch an. Ich schwieg wieder. Ich war heute einfach nicht gesprächig. Außerdem wollte ich einfach nur Ruhe haben und nicht weiter negativ auffallen. "Herr Lehrer! Hilfe Hilfe! Sam hat ihre Stimme verloren! Sie muss zum Arzt", schrie Elli plötzlich los. Wild fuchtelnd sprang sie auf und zeigte auf mich.

Stille. Dann lachten alle los. Alle, bis auf unser armer Biologie Lehrer. Wir nahmen ihn eh nie ernst. Andauernd spielten wir Mr. Palme Streiche oder wir zeichnenden Palmen an die Tafel und schrieben seinen Namen drüber. "Ja Mr. Palme. Die kleine Samantha ist heute wieder stumm", grölte jemand von hinten. "Ist halt eine Missgeburt.", drang eine bekannte Stimme zu mir rüber. Hannah. Anscheinend war das ihre Rache für die vergangenen Tage. Kurz schielte ich zu ihr rüber. Mit einem leicht unsicheren Lächeln saß sie kerzengerade auf ihren Stuhl und lauschte der grölende Menge. Jeder normaler Mensch würde jetzt rot werden, doch ich nicht. Es prallte einfach alles an mir ab. Das einzige was ich tat, war, dass ich Elli böse anfunkelte. Der Tumult um uns herum legte sich mit der Zeit eh und man gewöhnte sich an sowas.

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt