57 Kapitel

23.3K 866 41
                                    

Hannah P.o.V.

Ich fühlte mich wie eine Straftäterin. Allein dieser Gedanke hinderte mich daran, die weiße Tür zu öffnen und einzutreten. Meine Füße bewegten sich wie von selbst, als ich immer wieder im Kreis lief. Kittelträger sahen mich komisch an, doch noch sagte niemand etwas. Erst als ein Arzthelfer zum vierten Mal an mir vorbei lief, bleib er stehen. "Wenn Sie sich vor der Wahrheit drücken, wird es auch nicht besser." Ruckartig blieb ich stehen, warf mein langes Haar nach hinten und lachte trocken auf. "Sie haben doch keine Ahnung", konterte ich. Leise lachte er und schüttelte seinen Kopf. Braune Haarsträhnen fanden ihren Weg in sein kantiges Gesicht. "Das
haben Sie vielleicht Recht, aber der Person in dem Raum geht es im Zweifelsfall schlechter als Ihnen." "Meine beste Freundin liegt da drin." "Dann gehen Sie doch rein! Wo ist das Problem?" Ertappt biss ich mir auf die Unterlippe und wich seinen braunen Augen aus. Er hatte Recht. Es gab kein Problem. Ich erschuf ein Problem, indem ich nicht rein ging. Mit den Anderen fühlte ich mich bei unserem Besuch sicher, doch nun war diese Sicherheit verflogen. "Viel Glück noch. Und gute Besserung an Ihre Freundin", er nickte mir kurz zu, dann eilte er den Gang hinunter.

Tief atmete ich ein und aus, dann raffte ich meinen Mut zusammen und ging los. Ruckartig öffnete ich die Tür und ließ diese aus Versehen laut zurück ins Schloss knallen. Sam schreckte auf ihrem Bett hoch und wirbelte panisch herum. Anscheinend hatte ich sie aus ihren Gedanken aufgeschreckt. Als sie mich erkannte, seufzte sie erleichtert auf und ließ den größten Teil ihrer Anspannung weichen. "Hi." Unsicher winkte ich ihr zu und tapste unbeholfen auf sie zu. "Hat Lucas dich geschickt", fragte sie und sah mich fragend aus ihrem gesunden Auge an. "Nein, wieso sollte er", fragte ich verwirrt und zerrte den Stuhl zu ihrem Bett. "Grace meinte sowas. Und das du keine Zeit hättest", erklärte sie, während sie mit ihrer Bettdecke spielte. "Ach Grace", verächtlich schnaubend ließ ich mich auf den Stuhl fallen. "Sie redet viel wenn der Tag lang ist." Ein Ausdruck der Erleichterung huschte über Sams zartes Gesicht, doch er verschwand so schnell wie er gekommen war. Was hatte Grace ihr nur erzählt?
Früher hätte ich sie sofort danach gefragt, doch nun war mir, als würde uns eine unsichtbare Mauer trennen. Während ich sie musterte, machte sich Stille breit. Aufmerksam studierte ich meine ehemalige beste Freundin, während sie ihre Decke betrachtete. Sie war blasser als sonst. Und dünner, viel dünner. Der Gips wirkte riesig an ihrem zierlichen Arm. Ihr kaputtes Auge war nicht mehr mit einem Pflaster bedeckt. In ihrer ehemals schönen blassblauen Iris waren weiße und dunkle Linien zu sehen. Ein weißer Schleier lag über dem gesamten Auge und ließ es fast schon abartig wirken.

Als der Gedanke in meinen Kopf kroch, zuckte ich zusammen und schaute schnell in das andere Auge. "Also, was gibt es bei dir neues", versuchte ich krampfhaft eine Unterhaltung in Gang zu kriegen. "Was soll es neues geben", fragte sie leise und sah mich offen an. Schon wieder durchzuckten mich Schuldgefühle. Ich hätte es wissen müssen. Wir waren befreundet. Und doch habe ich ihr Leben nie hinterfragt. Das ich selten bei ihr war, störte mich nicht. Ihre Wunden waren irgendwann fast schon normal gewesen und auch sonst habe ich ihre gesamte Art einfach still hingenommen. Nie hatte ich irgendetwas hinterfragt. Nie.
"Naja, ich weiß auch nicht. Du meintest doch eben was von Grace", unsicher fuchtelte ich mit meine Hand herum und lächelte mehr oder weniger gequält auf. "Sie ist vor einer Stunde gegangen." "Sie war tatsächlich hier?" Mir fielen die Augen aus meinem Gesicht. "Ja, wir waren im Park." Sogar Grace hatte mehr Eier in der Hose als ich jemals haben würde. "War es denn schön?" Gott, ich klang wie eine Mutter! Meine Hände begannen wie von selbst mein rotes Top zurechtzurücken. "War ok." Mein Blick fiel auf meine kleine wortkarge Freundin. Ihre zierliche gesunde Hand massierte ihre Schläfe. "Wann kommst du hier raus?" Sie zuckte mit den Schultern und schloss gepeinigt ihre Augen. Anscheinend wurde sie von schlimmen Kopfschmerzen geplagt. Ich wollte sie in den Arm nehmen, sie an mich drücken und ihr sagen, dass ich immer für sie da sein werde. Doch ich konnte nicht. Die unsichtbare Mauer trennte uns. Unser Streit hing unausgesprochen in der Luft.

"Soll ich lieber gehen", fragte ich leise. "Nein, alles gut." Erleichterung machte sich in mir breit. Vielleicht war sie ja nicht sauer auf mich und mein Verhalten. "Geht es dir denn gut?" Sie hob ihren Blick. "Okay, dumme Frage. Verzeihe mir", unsicher lachte ich auf. Meine Zunge benetzte meine Lippen mit Feuchtigkeit und wischte den Lippgloss ab. Er schmeckte nicht.
Wieder breitete sich Stille zwischen uns aus. "Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Du solltest dich lieber ausruhen", beschloss ich und stand hastig auf. Krampfhaft umklammerte ich meine Handtasche, welche die ganze Zeit auf meinem Schoß gelegen hatte. Schnell ging ich zwei Schritte vor, beugte mich runter und drückte sie unbeholfen. "Wir sehen uns!" Bevor sie eine Antwort geben konnte, wich ich zurück und eilte zur Tür. Wie auf der Flucht huschte ich durch die Tür und lehnte mich, nach dem Schließen dieser, mit den Rücken an das kühle Material. Kummer breitete sich in mir aus. Warum hatte ich ihr Leid nur nicht früher erkannt? Ich hätte ihr helfen können! Nein, nicht können. Ich hätte ihr helfen sollen. Ich hätte eine gute Freundin sein sollen, aber stattdessen hatte ich versagt.

"Sie sind ja schnell wieder raus. Oder waren Sie gar nicht drinnen", der junge Arzthelfer erschien wieder, diesmal in Zivilkleidung. Mein Kopf flog wie wild hin und her, so dass meine Haare in mein Gesicht flogen. "War es denn so schlimm?" Gemütlich zog er sich seine schwarze Lederjacke rüber und lächelte mich freundlich an. Tränen bahnten sich ihren Weg hervor und rollten über meine Wangen. Panisch strich ich mir meine Haare aus meinem Gesicht und wischte die Tränen weg. Ich verhielt mich wie ein kleines Kind. "Alles in Ordnung bei Ihnen?" Eigentlich wollte ich ja sagen, doch zu meinem Nicken gesellte sich ein klägliches "Nein." Nun flossen immer mehr Tränen und der arme Mann sah mich hilflos an. "Es tut mir schrecklich Leid. Normalerweise bin ich nicht so. Aber..." Ein leider Schluchzer durchfuhr mich und hastig holte ich ein Taschentuch aus meine Tasche hervor. "Ich habe nur so schreckliche Schuldgefühle. Ich kann ihr nicht einmal in ihre Augen sehen", gestand ich und wischte die restlichen Tränen weg. "Haben Sie ihr denn was angetan?" Erneut kamen die Tränen. "Das ist es ja gerade! Ich habe nichts gemacht", verfluchte ich mich. "Oh. Aber Ihre Freundin ist doch nicht sauer, oder?" "Nein. Aber sie hätte alle Gründe der Welt dafür."

Der Mann fasste mich sanft am Oberarm an und führte mich aus dem stickigen Krankenhaus raus an die frische Luft. "Vielleicht sollten Sie erstmal nach Hause gehen. Ruhen Sie sich aus. Mit dem Druck und dem Stress den Sie sich selbst aufladen, kommen Sie nicht weit", erklärte er sanft und reichte mir noch ein Taschentuch. Schniefend nickte ich und umklammerte das weiße Tuch. "Dankeschön." Er nickte mir nochmal freundlich zu, dann setzte er sich in Bewegung. "Ich muss jetzt leider los. Schönen Abend noch. Und machen Sie sich nicht soviel Druck." Und damit stand ich alleine vor dem großen Betongebäude und ließ die Tränen fließen.

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt