56 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Es war Samstag, als Grace mich das nächste Mal besuchen kam. Mit schwarzen Stiefeln, einer zerrissenen Schwarzen Jeans und einer tiefschwarzen Lederjacke über einem weißen Top mit einem schwarzen Totenschädel drauf, kam sie in einer Nikotinwolke rein gerauscht. "Du und Ich, wir gehen spazieren. Jetzt", bellte sie ohne Begrüßung. Während sie, mit vor der Brust verschränkten Armen, auf mich wartete, zog ich mich langsam um. Ich hinterfragte sie nicht. Das hatte bei ihr eh keinen Sinn. Generell gehorchte ich in letzter Zeit nur noch und hinterfragte gar nichts mehr.
Warum auch?
Wenig später dackelte ich ihr mit meinen hellen und farbenfrohen Klamotten hinterher. Weiße Jeans, Blaues T-Shirt, rote Socken. Es passte alles nicht wirklich zusammen.
Genau wie Grace und ich.
"Ich melde dich kurz ab", brummelte sie und stiefelte zur Rezeption.

Wie ein verwirrtes Kleinkind blieb ich mitten in der kleinen Halle stehen und drehte mich.
Wo war sie nur?
Es war schwer mit nur einem Auge im Leben klar zu kommen, sehr schwer. Viel schwerer als ich je angenommen hatte. Da ich eh kurzsichtig war, konnte ich Personen in der Ferne nun noch schwerer erkennen. Es war grausam. Erst als Grace auf mich zu gestapft kam, erkannte ich sie. Erleichtert atmete ich aus, heftete mich dann aber sofort an ihre Fersen. Ich wollte nicht wieder alleine hier stehen. Ohne Rücksicht auf Verluste kämpfte uns die Braunhaarige den Weg durch die Menschen zum Ausgang, wobei sie mich auch gefühlt schon wieder vergessen hatte. Vor jeder Berührung panisch zurückschreckend, folgte ich ihr. Es war schwer den Menschen rechtzeitig auszuweichen, aber es ging. Irgendwie überlebte ich auch das.
Wir entkamen dem Labyrinth recht schnell, indem wir im Park des Krankenhauses auf die Schleichwege auswichen. Andächtig lauschte ich den Vögeln. Es war mir, als hätte ich sie das letzte Mal vor einer Ewigkeit gehört hatte. Fast wäre ich in Grace reingerannt, als sie urplötzlich stehen blieb, sich umschaute, mich an das Hand packte und wortlos vom Weg zog. Die Büsche rammten mir ihre Äste ins Gesicht, wodurch ich mir meinen Gipsarm vors Gesicht halten musste.
Für irgendetwas musste er ja gut sein.
Unter einer Eiche hielt Grace schließlich an und ließ sich leicht keuchend auf den Boden fallen.

"Na, komm Prinzessin. Setz dich. Ich beiße heute auch nicht", grinste sie und zog eine Zigarette aus der fast leeren Verpackung aus ihrer Jackentasche raus. "Willst du auch", nuschelte sie und zog kräftig an der frisch anzündeten Krebsbombe. Angeekelt verzog ich das Gesicht. "Hätte mich auch gewundert", kommentierte sie mein Verhalten trocken und blies mir den Rauch ins Gesicht. Hustend wand ich mich ab, lehnte meinen Rücken gegen den breiten Stamm und lauschte den Vögeln weiter. "Was läuft da zwischen Lucas und dir eigentlich", fragte sie nun scheinheilig, woraufhin ich sie erstaunt mit großen Augen ansah. "Na", drängte sie mich, weshalb ich den Kopf schief legte.
Eine neue Angewohnheit von mir. "Ich weiß nicht was du meinst", erwiderte ich sehr leise, doch leider hörte sie es. "Sie kann reden", jauchzte sie auf und streckte die Hände in Richtung Himmel. Unauffällig verdrehte ich die Augen. "Aber jetzt mal im Ernst. Du willst mir doch nicht erzählen, dass da gar nichts läuft", sprach sie dann todernst weiter und sah mich prüfend an. Energisch schüttelte ich den Kopf. Lucas und ich ein Paar?
Niemals!
"Ohhhh, da wird der Sunnyboy aber enttäuscht sein", seufzte sie theatralisch und zog kräftig an ihrer Zigarette. "Was meinst du", verunsichert musterte ich sie.
Habe ich Lucas was getan?

"Ach Prinzessin! Es ist doch offensichtlich, dass der liebe Lucas Night dich total mag." Bevor ich darauf was erwidern konnte, fuhr sie unbekümmert fort. "Sonst wäre ich ja heute nicht hier. Ich meine, er hat keine Zeit und deshalb muss ich Babysitter spielen. Schockierend oder? Nichtmal deine Freunde wollen dich sehen!" Mit aufgerissenen Augen drückte ich mich zurück an den Baum. "Was meinst du", flüsterte ich schockiert über ihre harten Worte. Meine Lippen begannen zu beben und ein Zittern durchfuhr meinen Körper. "Lucas hat heute keine Zeit. Verpflichtungen in der Familie oder so. Jedenfalls hat er extra mich gefragt, ob ich nach dir sehen kann. Hannah, Leon und Elli hatten wohl schon was vor." Schulterzuckend warf sie die ausglühende Zigarette auf den Boden und zermahlte sie mit ihren Stiefeln. Überfordert beobachtete ich sie dabei.
Stimmte das?
Wieso beorderte Lucas Grace als Babysitter für mich? Wollte er mich eigentlich komplett verarschen? War ich ein Spiel für ihn?

"Also", lenkte die Braunhaarige meine Aufmerksamkeit auf sich und drehte sich nun komplett mir zu. Nun saßen wir uns gegenüber.
Mit unverhohlener Neugierde betrachtete sie jeden Zentimeter meines Körpers, auch als ich mich unter ihrem Blick wand. "Weißt du was paradox ist", wechselte sie rasant das Thema. Dies war eine Angewohnheit von ihr. Immer wenn es brenzlig wurde, suchte sie sich ein neues haarsträubendes Thema aus. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. "Diego wusste es...er hatte mir schon vor Wochen seinen Verdacht erzählt." "Welchen Verdacht", fragte ich mit erstickter Stimme. Nun hatte ich einen Verdacht, einen sehr schrecklichen Verdacht. "Das dein Vater ein Schwein ist", sie stieß die Worte mit so viel Hass aus, dass ich fast drohte weggeweht zu werden. So viel Hass hatte ich das letzte Mal von meinem Vater zu spüren bekommen. Als sie ihren Kopf schief legte und mich weiter beobachtete, fielen ihre langen Haare in Locken über ihre linke Schulter. Sie sah nachdenklich aus und das verunsicherte mich noch mehr. "Ich wollte ihm das nicht glauben. Aber er hatte Recht", sie lachte trocken auf. "Weißt du, er hatte so eine ähnliche Situation Zuhause. Sein Vater schlug ihn auch früher, doch irgendwann sah ein Nachbar es und rief die Polizei. Er meinte, in dir eine Leidensgenossin zu sehen. Anscheinend stimmte das wohl..."
Unsere Schule bestand wohl nur aus Wracks. Ich kannte niemanden, der einigermaßen normal war. Doch was war schon normal? Vielleicht lag es daran, dass wir alle Geld hatten und mit zu vielen Privilegien aufwuchsen. Doch bevor ich sie näher fragen konnte, umschiffte sie auch dieses Thema und redete einfach weiter banales Zeug.

"Weißt du Samantha. Diego ist nicht wegen des Geldes auf unserer Schule. Ich habe seine Noten gefälscht, nur damit er ein Stipendium erhält." Sie grinste breit über meinen schockierten Gesichtsausdruck. "Spaß. Er hat ein verdientes Stipendium. Aber du musst eins wissen: Du brauchst dich echt nicht zu schämen. Deine Geschichte wurde nur offen gelegt. Die Geschichten der Anderen sind noch Geheimnisse und das ist noch viel schlimmer. Unsere Schule ist ein Müllhaufen. Kaum jemanden geht es gut. Ich meine, sieh mich an!" Sie breitete ihre Arme aus und drehte ihren Oberkörper umher. "Ich bin ein Waisenkind. Der Rektor ist mein Onkel. Weiß kaum jemand, aber es stimmt. Meine Mutter starb mit meinem Vater bei einem Autounfall. Damals war ich zwölf." Sie legte eine kurze Pause ein. Ihre Augen fokussierten mich erneut. "Also hör auf dich zu schämen. Irgendwann werden die Geschichten der anderen offen liegen und dann wird deine Vergangenheit wie eine kleine Hölle im Kreise von vielen weiteren Höllen wirken. Noch sehen die dummen Kinder es nicht ein, aber bald werden sie es kapieren. Ihre Leben sind zwar nicht wie deins, aber auch nicht toll. Und je eher ihre Karten offen liegen, desto besser ist es für alle Beteiligten. Wir sind die Kinder der Reichen und doch sind wir die Ärmsten! Und weißt du wieso?"

Mein Kopf bewegte sich von alleine hin und her. Missbilligend schnalzte sie mit der Zunge. "Bald wirst du es erfahren. Und nun komm, es wird Zeit dich wieder reinzubringen. Sonst werde ich noch wegen mutmaßlicher Entführung verhaften." Energisch erhob sie sich, klopfte ihre Hose sauber und zog mich grob auf die Beine. "Hob hob!" Ihre sentimentale Ader war wieder verschwunden und die kalte Grace war zurück. So pompös ihre Rede auch eben war, so schweigsam war sie nun. Sie ließ mich über ihre Worte grübeln und verlor selbst keinen einzigen Ton mehr darüber. Sie ließ mich alleine mit meinen düsteren Gedanken.

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt