49 Kapitel

25.9K 1K 80
                                    

Samantha P.o.V.

Die Decke war weiß. Das war meine erste Entdeckung. Die Wand war ebenfalls weiß. Das war meine zweite Wahrnehmung. Um mich herum piepste es. Das war meine dritte Feststellung. Ich war in einem Krankenhaus. Das war meine logische Schlussfolgerung.

Langsam schloss ich meine Augen. Dann öffnete ich nur das rechte Auge. Dunkelheit. Linkes Auge. Licht.
Ich seufzte. Meine Lippen waren trocken, mein Mund schmeckte ekelig und ich fühlte mich eingeengt. Angewidert bewegte ich meinen Kiefer und schob meine Spucke hin und her. In typischen Geschichten kamen eigentlich sofort die Ärzte, doch bei mir wohl nicht. Ich hätte aber nichts gegen was zu trinken. Ein schönes Glas Wasser. Das wäre ein Traum. Langsam versuchte ich mich zu bewegen, doch sofort durchfuhr mich ein schrecklicher Schmerz. Woher er kam, wusste ich nicht einmal. Die Geräte um mich herum piepten wie verrückt. Jetzt müsste doch mal ein Arzt auftauchen.

Tatsächlich. Zwei Minuten später schoss eine große blondhaarige Frau herein. "Miss Duncan. Schön Sie wach zu sehen. Wie geht es Ihnen? Ich bin Mrs. Dr. Gray. Ich habe die Operationen durchgeführt und Sie unter den Lebenden gehalten. Und glauben Sie mir, dass war nicht leicht", ihre Stimme war angenehm, allerdings redete sie mir zu schnell. Viel zu schnell. Mein zugenebeltes Gehirn bekam nichts mit. Anscheinend war ihr die Situation auch ziemlich unangenehm, denn sie redete und redete. Sie hatte es wohl nicht oft mit zusammengeschlagenen Teenagern zu tun. Ich meine, wer hatte das schon?
Nachdem sie ihren Arztvortrag beendet hatte, zog sie einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.
Zu Nahe!
Sämtliche Alarmglocken schrillten, doch ich blieb stumm. Mit wachsamen Blick beobachtete ich sie. Still musterten wir uns beide.

"Sie haben noch nicht ein Wort gesagt", bemerkte sie nun leicht pikiert. Da ich weiterhin nichts sagte, lehnte sie sich nun zurück und seufzte. Was erwartete sie auch? Das ich ihr in die Arme fallen und dafür dankbar war, dass sie mich gerettet hat? Irgendwie nicht. Sie hätte mich ruhig verrecken lassen können. Dann müssten wir beide jetzt nicht uns stumm anschauen und warten bis die jeweilige gegenüber Sitzende anfing zu sprechen. Langsam nahm die blonde Frau ihre Brille ab und rieb sich müde über die Augen. Auf einmal sah sie schrecklich alt aus. Vierzig Jahre hatte sie sicher schon auf den Buckel. Totgearbeitet war das Zauberwort. Ihre braunen Augen fokussierten mich während meine grauen Augen ihrem forschen Blick auswichen. "Wissen Sie....ich hatte schon viele Fälle. Wirklich, die interessantesten Verletzungen hab ich schon behandelt. Und Ihre Verletzungen, ich glaube nicht, dass Sie sich selbst verletzt haben." Was wollte sie von mir hören? Das mein Vater mir netterweise seine persönliche Note verpasst hatte? Ich glaube eher nicht.

Ich öffnete die Mund, bewegte die Zunge, doch es kam kein Ton raus. Ein paar Mal versuchte ich es, doch ich bleib erfolglos. Also schwieg ich wieder. Sie seufzte, dann setzte sie ihre Brille auf und begann mich zu untersuchen. Auf die typische ruppige Ärzteart. Charmant. Am liebsten wäre ich weggerannt. Ihre Diagnose war genauso vielversprechend: "Stimmbänder sind überanstrengt. Ein bisschen trinken, zwei Tage Stimme schonen, dann geht das wieder." Ja genau, trinken würde ich gerne, doch das kam ihr noch nicht in den Sinn. "Ansonsten ist keine Naht aufgeplatzt und alles scheint bislang gut abzuheilen. Ich komme nachher nochmal vorbei." Damit war sie verschwunden und ich war alleine. Sehr gut. Ruhe war das was ich brauchte.

Ich schlief. Mein Tagesablauf bestand aus schlafen, Nahrung zur Hälfte verweigern und schlafen. Mein Gips an der rechten Hans nervte tierisch. Schwester Anna hatte ihre liebe Not mit mir. Und ich mir ihr. Sie war eine dieser Krankenschwestern, die ihr Leben bemitleideten und ihren Job hassten. Wir mochten uns somit nicht. Ihre negative Art zog mich immer weiter runter und so fühlte ich mich jede Sekunde immer schlechter. Sprechen tat ich nicht. Ich konnte es nicht. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, welches nicht sprechen konnte und sich weigerte es zu lernen. In meinem Kopf herrschte komplette Leere. Ich lag nun drei Tage schon auf der Intensivstation. Zum mindestens das hatte mir Anna erzählt. An Tag drei und ein paar Stunden nach Mittag, kam Besuch. Fast wäre ich schreiend aus dem Bett gesprungen, aber da ich an Geräte gefesselt und stumm war, kam es gar nicht erst dazu.

Seine Augen waren müde. Große Augenringe zierten seine blasse Haut. Obwohl er immer viel Wert auf sein Äußeres legte, war er nun ein ziemliches Wrack. Heute morgen hatte man mich irgendwo anders hingebracht. Ich war dankbar drum. Bloß runter von der Intensivstation. Hier stank es ein bisschen weniger als drüben. Außerdem hatte ich meine Ruhe, da Anna und die Ärzte nicht jede Sekunde sondern nur noch jede zweite Minute vorbeischauten. Seine grauen Augen trafen meine und Tränen begannen über seine Wangen zu laufen. Schneller als ich piep sagen konnte, hockte er auf der Bettkante und grapschte nach meiner Hand. Ich zuckte zusammen.
Weg. Er soll weggehen!
Doch Basti ging nicht weg. Stumm hielt er meine Hand und ließ die Tränen laufen. "Wer? Wer hat dir das angetan", fragte er mit brüchiger Stimme und strich mir eine blonde Strähne aus dem Gesicht. "Ich sorge dafür, dass dieses Monster hinter Gitter kommt. Niemand fügt meine kleinen Schwester unbestraft Schmerzen zu", flüsterte er und umfasste mein Gesicht. Doch dann sah er mir in die Augen. Voller Schmerz im Blick zog er seine Hände zurück. Er sah meine Angst. Er spürte sie. Und wenn er nicht ganz doof war, sah er auch die Herzfrequenz auf dem Bildschirm neben mir. Mein Herz raste förmlich. Rasch griff er nach dem Stuhl hinter sich und setzte sich schwer atmend nieder. "Zwei Rippen gebrochen, drei geprellt. Arme aufgeschnitten. Rechte Hand gebrochen. Rechtes Auge wahrscheinlich für immer blind. Das sind einiger der Verletzungen", zählte er zu ruhig auf. Stumm schaute ich ihn an. "Ich will dieses Schwein bestraft sehen. Aber musst du mir erzählen, wer das war!"

Zwei graue Augenpaare trafen aufeinander. Wir sahen uns lange an, doch er konnte meinen Augen nicht standhalten. "Ich hätte bei dir bleiben sollen", murmelte er und sackte förmlich in sich zusammen. "Du bist meine kleine Schwester und ich habe mich einen Scheiß um dich gekümmert", begann er leise und sah mich durch seine Hände hindurch an. Er wurde immer kleiner auf dem Stuhl. Als er seine Hände vom Gesicht wegnahm, sah ich, dass er unrasiert war. Das kam eigentlich nie bei ihm vor. War er krank? War er krank vor Sorgen? Wegen mir?
"Sam. Ich habe mir der Polizei gesprochen." Seine Atmung ging immer schneller. "Dein Freund. Lucas. Er hat eine interessante Aussage gemacht." Nun hatte er meine Aufmerksamkeit. "Weißt du. Unser Vater ist verschwunden. Niemand hat ihn irgendwo gesehen." Meine Augen durchbohrten seine. Er atmete mehrmals tief durch und fragte mit gepeinigte Stimme die Frage aller Fragen."War er es? Hat Dad dich so zugerichtet?"

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt