39 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Er traf mich am Fuß und Bein. Aus Reflex war ich weg gerutscht und er hatte meinen Körper größtenteils verfehlt. Vor Schock sahen wir uns beide einen kurzen Moment in die Augen. Fassungslos. Im Moment trieb mich irgendwie die Selbstmordsucht. Mein Vater knurrte erbost los, doch ich sprang schon auf. Heute nicht. Ich tat das, was ich schon so oft getan hatte. Ich floh. Meistens hatte ich mich dann irgendwo versteckt oder er hatte mich erwischt und verprügelt, eingesperrt oder schlimmeres getan.

Doch heute war ich von ungeahnten Kräften geflutet. Rutschend und schlitternd schoss ich durch den Flur, die Treppe rauf. Mein Vater folgte mir polternd. Ich rannte und rannte. Meine Füße trommelten über den teuren Laminatboden. Vorbei an teuren Gemälden und unnötigen Möbelstücken, welche nur unseren Reichtum repräsentieren sollten. Hinter mir hörte ich seinen schweren und schleppenden Atem, seine lauten Tritte und seine Flüche. Ich hörte meinen Atem, welcher wie der eines gejagten Rehes klang. Panisch und unregelmäßig. Mein Ziel war sein Arbeitszimmer. Ich schmiss die Tür hinter mir zu und stürmte weiter. Hinter einer kleinen Nebentür versteckte sich eine schmale Wendeltreppe. Auf diese stürmte ich nun zu, doch mein Vater erreichte mich vorher. Krachend stürzten wir zu Boden.
Nein, ich würde jetzt nicht aufgeben.
Ich schlug wie wild um mich und zerrte mich wieder auf die Beine. In einem Moment der Unachtsamkeit entwischte ich seinen Klauen und stolperte orientierungslos die Treppe runter. Er folgte mir nicht. Ich packte meine Handtasche mit allem wichtigen Kram von der Kommode und stürmte zur Haustür. Mein einziges Ziel war, weg von hier zu kommen. Weit weg. Keuchend schloss ich diese hinter mir und rannte weiter. Ich wusste, er würde mir nicht folgen. So leichtsinnig war er nicht. Trotzdem rannte ich weiter. Erst im Park wurde ich langsamer und schlich unauffällig zum See. Gekonnt ging ich den wenigen Menschen, die gerade unterwegs waren, aus dem Weg. Dort angekommen ließ ich mich ins Gras fallen. Mein linkes Bein tat schrecklich weh. Vorsichtig zog ich es über mein rechtes Bein und betrachtete es. Meine schöne lange Jeans war gerissen. Vom Knie bis zu meinem großen Zeh war die Haut aufgeplatzt und eine lange Blutspur zog sich über mein Bein. Stürzen war wohl nicht mein Talent.
Scheiße.

Vorsichtig stand ich auf und ging auf den See zu. Da es abends war, war es ruhig hier. Im letzten Sonnenlicht ging ich tiefer ins Wasser rein und biss fest die Zähne zusammen, als das kühle Wasser auf meine Wunder traf. Meine Tasche lag noch am Ufer. Das Wasser um mich herum färbte sich dunkel von meinem Blut. Jeder kleine Welle wusch das Blut von meinem Bein und bereitete mir weitere stechende Schmerzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging ich wieder zurück ans Ufer. Dort setzte ich mich erneut hin und betrachtete das Bein erneut. Die Wunde war nicht sonderlich tief, eher oberflächlich. Aber trotzdem musste sie verarztet werden. Ein Seufzten verließ meine Lippen. Ich hatte so keine Lust auf eine Entzündung. Doch nach Hause würde ich nicht gehen. Heute nicht mehr. Ich wühlte mich durch meine Handtasche und fand schließlich Desinfektionsspray. Wenn man öfters verletzt war, war man schon irgendwann vorbereitet. Leider hatte ich keine Salbe dabei, also musste das Spray reichen. Mit Tränen in den Augen sprayte ich mein Bein ein und schon den kaputten Jeansstoff darüber. Erst jetzt fiel mir auf, das ich keine Schuhe trug. Praktisch. Äußerst praktisch. Und es war jetzt nicht so, dass es nachts schon schön warm war. Nee, inzwischen wurde es nachts netterweise immer kälter.

Zitternd griff ich nach meinem Handy und öffnete Whatsapp. Nein, Hannah wollte ich nicht anschreiben. Elli auch nicht. Irgendwie war ich ihr heute nicht wohl gesonnt. Sie redete mir zu viel, entschied nur für mich und auf Drama hatte ich noch einiger Lust. Blieb eigentlich nur ein Chat übrig. Schon etwas peinlich. Zögernd klickte ich unseren Chat an.
"Hey. Ich habe mich ausgesperrt :( kann ich zu dir kommen?"
Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich hasste es zu lügen, doch irgendwie bestand mein Leben nur aus Lügen. Mein Display blinkte auf. Sofort öffnete ich den Chat.
"Klar doch :) weißt ja wo ich wohne oder ;)"
"Ja"
Antwortete ich sehr kreativ und stand auf. Minuten später stand ich vor seinem Haus. Ich musste nichtmal klingeln, denn er öffnete die teure Eichenholztür sofort. "Standest du etwa am Fenster und hast auf mich gewartet", fragte ich schwach lächelnd. Grinsend fuhr er sich durch die braunen Haare und lehnte sich demonstrativ gegen den Türrahmen. "Willst du jetzt rein oder nicht?" Ergeben nickte ich und er ließ mich dann doch noch gütiger Weise durch. "Du siehst scheußlich aus", bemerkte Lucas dann auch schon. Seine dunklen Augen musterte mich kritisch. Er kniff die Lippen zusammen, doch selbst unter seinen forschenden Blick war ich nicht gewillt irgendwas zu sagen. Als ich nicht antwortete, packte er meinen Arm und zerrte mich mit hoch. Widerwillig folgte ich ihm.

Sein Zimmer war sogar relativ ordentlich und vor allem extrem sauber. Auf einem Regal standen Pokale von Footballspielen und andere Auszeichnungen. Einige Bilder standen daneben. Der einzige richtige Beweis für ein Jungszimmer waren die verdreckten Klamotten in der einen Ecke. Unsicher sah ich mich um. Der überfüllte Schreibtisch, der Stuhl davor. Alles sah so normal aus. "Kannst dich ruhig setzen", sein Ton klang belustigt. "Woher weißt du eigentlich wo ich wohne", fragte er neugierig, nachdem ich mich vorsichtig auf den Stuhl gesetzt hatte. "Ach komm. Jeder weiß wo du wohnst", erwiderte ich leicht beleidigt und ließ meine Tasche auf den Boden fallen. Er hatte ja auch schließlich mein Nummer schon gehabt. "Hast recht. Aber wieso siehst du jetzt so schrecklich aus", er ließ sich gemütlich auf sein ungemischtes Bett fallen. Anscheinend wollte er das Thema echt nicht so schnell fallen lassen. "Stress Zuhause", probierte ich es mir der halben Wahrheit. "Gehst du dann immer barfuß raus", fragte er grinsend und zeigte auf meine leicht dreckigen Füße. "Oh. Jetzt habe ich alles dreckig gemacht. Tut mir leid", rief ich entsetzt auf. Lachend winkte er ab. "Das nicht. Aber kaum jemand normales geht so leicht bekleidet abends raus. Warst du im Wasser", anmutig beugte er sich vor und schaute auf meine nassen Hosenbeine. Langsam bereute ich es hierher gekommen zu sein. Doch er wartete meine Antwort nicht ab. Stattdessen stand er auf und ging zu seinem unordentlichen Kleiderschrank. "Was machst du?", fragte ich unsicher. Als Antwort flog mir ein Paar Socken, eine Jogginghose und ein großer Pullover ins Gesicht. "Ich will doch nicht, das du dir den Tod holst", zwinkerte er mir zu, woraufhin ich leicht rot anlief. Aufmerksam schaute er mich. Als ich mich nicht bewegte, ging er raus und ließ mich in Ruhe umziehen.

Nun saß er wieder auf seinem Bett und musterte mich. Er sagte kein Wort mehr zu meiner kaputten Hosen oder generell zu meinem Auftreten.
"Willst du mit uns essen", fragte er urplötzlich. Ich zuckte vor Schreck zusammen.
"Was? Ja, ähm. Also wenn ich keine Umstände mache", ich versteckte mich hinter meinen Haaren. Wieso war ich nochmal hierher gekommen? Leise lachte er auf.
"Das machst du schon nicht."
Und schon wieder schwiegen wir uns an. Verlegen knabberte ich an meiner Unterlippe herum. Sein Forscher Blick lag durchgehend auf mir und innerlich starb ich vor Panik.
"Warst du heute in der Schule?"
"Nee, mein Bruder hatte meinen Wecker ausgestellt. Du?"
"Nee. Keine Lust. Heute ist da eh keiner aufgelaufen."
Stille. Ich hasste dieses peinliche Schweigen und begann mit meinen Haaren zu spielen. Es war so unangenehm.
"Hast du deinen Rausch ausgeschlafen?"
"Ja."
"Schön."
"Hm."
Peinlicher ging es echt nicht. Wieder war es eine gefühlte Ewigkeit still. Unruhig schauten wir uns beide an.
"Hast du schon für die kommenden Arbeiten gelernt?"
"Nee. Nicht so wirklich. Du?"
"Nee. Keine Lust und keine Zeit gehabt."
"Schön."
Tick, tack. Tick, tack. Man konnte seinen Wecker lautstark hören. Sekunden vergingen. 55, 56, 57.

"Es tut mir Leid", durchbrach er schließlich die unangenehme Stille. Das er diese Worte mal sagen würde. Nun hob ich den Kopf und sah ihn erstaunt an. "Was denn genau", fragte ich und legte den Kopf schief. "Einfach alles. Das ich dich neulich geschlagen habe. Oder generell mein Benehmen dir gegenüber. Die ganzen letzten Jahre." "Oh...." "ich war ein Arsch. Ich weiß", er seufzte niedergeschlagen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. "Hey, sag sowas nicht. Du hattest sicher deine...ähm....Gründe", ich lächelte leicht gequält. "Ach komm. Ich war ein Arschloch. Das kannst du ruhig sagen", er verzog sein Gesicht und fuhr sich mehrmals nervös durch die Haare. "Okay. Du hast ja recht. Du warst ein arrogantes Arschloch", gab ich leichthin zu, woraufhin ich mir sofort die Hand vor den Mund schlug. "Tschuldige", murmelte ich kleinlaut, doch er lachte nur. "Ja, das war ich echt. Ich weiß noch nichtmal richtig, wieso genau ich so zu dir war. Ich meine, du hast mir ja nie was getan", wieder fuhr er sich durch die Haare, benetzte seine Lippen mit der Zunge mit Feuchtigkeit. Er war nervös. Aufmerksam verfolgte ich jede seiner Bewegungen. "Weißt du, ich wollte immer nur Aufmerksamkeit. Vor allem damals. Warum kann ich dir nicht sagen. Ehrlich...ich weiß es nicht. Ich wollte einfach immer der Prinz sein, welcher ich auch Zuhause war", er lachte auf und begann wie blöd mit seiner Decke zu spielen. "Affig. Ich weiß. Und alle haben mir auch diese Aufmerksamkeit gegeben. Nur du halt nicht", jetzt schaute er mich gequält lächelnd an. Peinlich berührt schaute ich bei seinem intensiven Blick weg. Erneut fuhr er sich durch die Haare. "Und irgendwie wollte ich genau deine Aufmerksamkeit haben."

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