58 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Jeder Schritt fiel mir schwer. Mein Bruder wartete zwar geduldig an der großen braunen Eichentür, doch trotzdem wurde ich nicht schneller. Eher langsamer. "Komm schon Sam", rief er und fuchtelte wild mit der Hand. Es sollte mich wohl aufmuntern, doch er erzielte das genaue Gegenteil. Ruckartig blieb ich stehen. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt und dann tat ich meistens das Gleiche, nämlich nichts. Immer wenn ich unter Druck stand, hatte ich ein totales Blackout. Ich wusste gefühlt nicht einmal mehr meinen Namen.
Horror.
Seufzend blockierte Basti die offene Tür und joggte auf mich zu. "Komm her Süße. Ich helfe dir", lächelte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn, woraufhin ich zurückwich. Sanft nahm er meine Hand und legte seine andere Hand auf meinen Rücken, nur um mich bestimmt vorwärts zu schieben. "Basti....", jammerte ich und wand mich hin und her. "Ich will nicht." "Er ist nicht da, versprochen."

"Ich will trotzdem nicht", wimmerte ich und schüttelte wie wild meinen Kopf. Und trotzdem schob er mich weiter auf das dunkle Schloss zu. Zum Horrorkeller. Zum Palast der Finsternis. Unsere alte Villa hatte viele Namen. Haus des Teufels passte dennoch am Besten.
"Du schaffst das", wisperte er in mein Ohr, so dass sich meine Nackenhärchen aufstellten. Steif stieg ich die Stufen hoch und trat ins Haus ein. Es stank nach Reinigungsmittel und Blei. Der Luft im Haus fehlte der Sauerstoff und auch sonst sah es eher trübe von innen aus. Das Basti hier nun wohnte, war deutlich an den verteilten Klamotten zu sehen. Obwohl das Haus riesig war, hatte er es geschafft, überall etwas zu verteilen. Auch jetzt lag in seinem Blick eher was gehetztes. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut.
Seine Hände in den Hosentaschen blieb er zögernd stehen. "Willst du auf dein Zimmer?" Er trat von einem Fuß auf den Anderen. Als Antwort schüttelte ich den Kopf, biss mir auf die Lippen und sah mich um. Wie ferngesteuert ging ich ins Wohnzimmer. Der Glastisch war weg, genauso wie Mums Vase. Meine Füße gingen ihren eigenen Weg, folgten meinen unsichtbaren Spuren von jenem Abend. Basti folgte mir leise. "Ich habe versucht alles aufzuräumen!" Erst jetzt fiel mir ein schlichter brauner Teppich auf. Der war neu. Langsam ging ich in die Hocke."Sam. Bitte nicht", ein gequälter Blick huschte über sein Gesicht, doch bevor er mich hindern konnte, hob ich den Teppich an. Rostrote Blutflecken waren auf dem Paket zu sehen.
"Sam, es tut mir Leid! Ich kriege es einfach nicht raus. Deshalb der Teppich", ratterte mein Bruder los. Wie in Zeitlupe stand ich auf, drehte mich um und sah ihn lange an. "Sam....", flüsterte er. Als er seine Hand nach mir ausstreckte wich ich zurück. Immer wieder blitzten die Bilder meines Vaters vor meinen Augen auf. Sein wahnsinniger Blick. Seine nie endende Gier.

Panisch wich ich zurück, schüttelte meinen Kopf. "Sam....bitte. Hab keine Angst vor mir." Die Stimme war weit weg.
Sam. Sam. Sam.
Immer wieder wiederholte die Stimme meines Vaters meinen Namen. "Nein, nein", wimmerte ich los, fasste mir an die Stirn und sackte in mich zusammen. "Ist alles in Ordnung? Sam, bitte rede mit mir", flehte eine weitentfernte Stimme. Eine Hand berührte mich. Schreiend fuhr ich hoch, schlug um mich und rannte. Meine Füße trugen mich raus aus dem Haus. "Samantha", schrie die Stimme laut aus dem Haus, mein Bruder. Doch die Angst trieb mich vorwärts. Immer wieder tauchten die Bilder von meinem Vater auf. Seine Stimme echote in meinem Kopf und lachte mich aus.
Wie erbärmlich du doch bist!
"Lass mich in Ruhe", mit meinem gesunden Arm stieß ich das Eisentor auf und rannte weiter.
Lauf nur, Lauf. Mir entkommst du nicht!
Tränen traten mir in die Augen, versperrten mir meine eh schon schlechte Sicht. Vollkommen in Panik rannte ich. Meine Füße trommelten über den Asphalt. Ich schaute weder rechts noch links, rannte auf gut Glück über jede Straße. Ab und zu knallte mein Gipsarm gegen einen Passanten, doch ich ignorierte den Schmerz. Mein Herz pumpte lautstark, meine Lunge schrie nach Sauerstoff und meine Rippen begannen wieder schmerzvoll zu pochen. Doch ich rannte. Ich rannte. Weg von dem Haus. Weg von meinem Vater.

Je weiter ich lief, desto leiser wurde die Stimme meines Vaters. Also lief ich weiter. Irgendwann gaben meine Beine nach und zitternd brach ich zusammen. Nach Luft schnappend kauerte ich mich auf den trockenen Boden, umarmte meine Knie und weinte bitterlich los. Ich wusste nicht wo ich war. Ich sah nichts, mein Auge tat weh, das andere war vor Tränen blind. Schluchzend wand ich mich am Boden, zitterte am ganzen Körper.

Mein Bruder irrte sich wenn er sagte, dass mein Vater nicht mehr im Haus sei. Er war nicht physisch anwesend, sondern psychisch. In jedem Möbelstück war eine Erinnerung an ihn, in jeder Mauerritze war er. Er war das Haus. Alles was ich mit ihm erlebt hatte, war in diesem Haus passiert. Er war allgegenwärtig. Alleine im Flur begann der Horror schon. Es gab keinen Raum, der mich nicht an ihn erinnerte. Überall war etwas von ihm. Überall verband ich irgendwas mit Schmerz und ihm. Er war überall.
Ich konnte nicht zurück. Ich war schwach. Ich war zusammengebrochen. Meine Mauer war gefallen. Ich schaffte es nicht.
Schwächling!
Wieder ertönte seine Stimme in meinem Kopf. Schreiend hielt ich mir die Ohren zu, drehte mich von links nach rechts und wieder zurück. Meine Schmerzen kehrten zurück. Es war nicht gerade ratsam, wenn man gerade aus einem Krankenhaus kam, sich mit noch malträtierten Rippen und einem Gipsarm zu wälzen. Doch ich hatte keine Kontrolle über mich. Die Schmerzen überrannten mich immer wieder und ich wollte nur noch fort.

Basti fand mich heulend an einen Baum gelehnt. Wie lange ich hier lag, wusste ich nicht. Schreiend stürzte er auf mich zu, umarmte mich grob und drückte mich an sich. "Mach das nie wieder. Ich bin fast umgekommen vor Sorgen", schluchzte er in meine Haare. Tränenüberströmt drückte ich mein Gesicht an seine Brust und ließ mich von ihm vorsichtig hochheben. Es tat mir so Leid. Egal was ich tat, ich war ihm immer eine Last.
Du bist jedem eine Last.
Wieder packte mich ein Heulkrampf. Mit meinem gesunden Arm umklammerte ich meinen großen Bruder, welcher mich behutsam zu seinem Auto trug. Mein ganzer Körper pochte vor Schmerzen, doch ich ignorierte sie. Das habe ich früher schon immer getan, also klappte es auch jetzt. Etwas schwierig gestaltete es sich für Basti die Tür zu öffnen, doch er schaffte es irgendwie. Innerhalb eines Wimpernschlages setzte er mich auf dem Beifahrersitz und schnallte mich an. Atemlos lehnte ich mich zurück und versuchte meine Tränen zu bändigen. Seufzend startete er den Motor und fuhr los. "Es war echt schwer dich zu finden", begann er zu reden, doch ich schaltete auf Durchzug. Der Feldweg war uneben, weshalb ich immer wieder ordentlich durchgeschüttelt wurde. Ich weiß, Basti meinte seinen Vortrag nicht böse, aber ich vertrug es im Moment nicht. Ich redete mich selbst schon schlecht, da brauchte ich nicht noch mehr Vorwürfe.
Als wir unser Haus erreichten, hob Basti mich wie selbstverständlich aus dem Auto und trug mich rein. Ich ließ es stumm geschehen. Ausdrucklos musterte ich das Haus. Sobald wir durch die Tür traten, prasselten erneut alle Erinnerungen auf mich ein.

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt