31 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Zuhause. Für Andere mag dieses Wort der Himmel auf Erden sein, für mich war das eher die Hölle. Eine Woche hatte ich Ruhe gehabt und nun war ich wieder hier. "Durchhalten", flüsterte ich mir selber zu und meine innere Stimme bekräftigte mich mit einem eindringlichen Das schaffst du. Steif ging ich die letzten Treppenstufen hoch und schloss die Haustür auf. Stille empfing mich. Aber mein Vater war doch eigentlich Zuhause. Sein Auto stand ordentlich geparkt auf seinem Stammplatz, seine Jacke hing an ihrem Haken und seine Schuhe standen verstreut im Flur. Alles wie immer. Vielleicht war er ja wieder mal umgekippt?
Das glaubst du doch wohl selber nicht!
Selbst wenn er umgekippt wäre, würde hier irgendwo mindestens eine Alkoholflasche leigen. Aber dies war nicht der Fall. Komisch.

Im Wohnzimmer war er nicht. In der Küche auch nicht. Misstrauisch hielt ich inne. Blieben eigentlich nur seine Privaträume oben. Hier unten interessierten ihn keine anderen Räume. Nachdem ich also meine Tasche in mein Zimmer geschmissen hatte, ging ich leise zu seiner Zimmertür. Ich hatte Schiss. Und Angst. Panisch war ich auch. Warum suchte ich ihn nochmal?!
Weil du sehen willt ob es noch lebt.
Ach stimmt ja. Da war was. Mein Vater war ja ein Alkoholabhängiger Freak, der seine Tochter schlug und auch mal vergewaltigt hatte. Da war ja was. Da war ja was... Wir konnte ich das nur vergessen?
Aber er war immer noch mein Vater. Irgendwie. Irgendwo. Eigentlich war das einzige was uns noch verband das Blut. Und die Erinnerung an meine Mutter. Ich seufzte. Warum war mein Leben nur so scheiße kompliziert? Warum konnte ich nicht einfach einen Vater haben, der mich mit offenen Armen empfing und mich tröstete, wenn ich mal wieder Albträume hatte? Stattdessen sorgte er für eben diese. Aber das Schicksal sah es wohl anders. Das dachte sich wohl, dass mein Leben zu einfach ohne Alkohol wäre.

Und nun stand ich hier, zitternd, vor der Tür meines Vaters und wartete. Worauf wusste ich selber nicht. Das einzige, was ich wusste, war, dass ich lächerlich war. Ich meine, welches normale Kind fürchtete sich schon vor seinem Vater? Genau, keins! Ich war nicht normal, dass war es! Ich war krank. Genau, dass war es. Deshalb hatte mein Vater was gegen mich. Das musste der Grund sein. Je mehr ich darüber nachdachte, je mehr Zeit verstrich, desto mehr überzeugte mich dieser Gedanke.
Wahrscheinlich hätte ich noch mehr darüber nachgedacht, wäre nicht genau in dem Moment die Tür aufgegangen. Mein Vater schaute mich aus müden grauen Augen an. Auf seiner Stirn bildete sich eine kleine Falte und er sah mich verwundert an. Zitternd legte ich den Kopf leicht in den Nacken. "Hey, ...... Vater. Wie .... ähm .... geht es dir", fragte ich unsicher. Der hochgewachsene Mann vor mir sah mich nochmal verwirrt an, dann musterte er mich komplett.

"Kennen wir uns?", fragte er schließlich. Jetzt sah ich ihn verwundert, ja fast schon panisch, an. Doch, das war mein Vater, da war ich mir zu 100 % sicher. Blondgraue Haare. Graue Augen. Strenge Gesichtszüge. Ein, zwei Falten auf der Stirn. Um seinen Mundwinkel waren noch versteckt ein paar ehemalige Lachfalten. Hochgewachsene Statur. Muskel vom nichts tun. Kein Bierbauch obwohl er soff wie sonst was. Ein edles Hemd steckte in einer teuren maßgeschneiderten Jeans. Seine Füße steckten in flauschigen schwarzen Hausschuhen und standen damit im Kontrast zu dem Rest. Das er sie immer noch trug, rührte mich, da ich sie ihn vor gefühlt einer Millionen Jahren geschenkt hatte. Um seinem linken Handgelenk trug er wie immer eine teure Uhr, welche beim Schlagen der Tochter dieser erst recht weh tun konnte.
Ja das war mein Vater. Zu 100 %. Leider.
"Ich bin es. Samantha.", meinte ich nun zittrig. Welches Spiel spielte er nun mit mir? Würde er gleich verarscht rufen und mir eine scheuern?
Sei doch nicht blöd!
Ich war aber blöd! Da konnte mein Kopf mir sagen was er wollte, ich war blond und ziemlich blöd! Krank! Gestört wohlmöglich! Ich meine, er schlägt mich! Das brauchte einen Grund und der Grund war und bin ich! Niemand sonst. Nur wegen mir hat er mit dem Alkohl trinken angefangen!
Ich habe ihn nicht genügend unterstützt als Mom gestorben war.
Ich war Schuld das er trinken musste, da seine Tochter nicht gut genug war.
Ich war Schuld, dass Mom überhaupt gestorben war!
Ich war Schuld! Und ich hatte jeden einzelnden Schlag verdient gehabt!
"Samantha. Der Name sagt mir was. Sind Sie eine meiner Kundinnen", fragte mein Vater nun vor mir und lächelte leicht. Er lächelte! Was hatte er zu sich genommen, dass er solche Gedächnisaussetzer hatte?
Er lächelte, weil er mich nicht erkannte!
Er lächelte, weil er dachte er sähe gerade nicht seiner Tochter, der größten Schande der Welt, in die Augen.
Er lächelte. Das sollte er öfters tun...

Meine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Immer mehr Wörter, Sätze, flogen in meinem Kopf hin und her. Es fiel mir schwer auch nur einen klaren Gedanken zu erfassen. einen Satz zu sagen.

Ich werde verrückt.

"Ich bin deine Tochter", stieß ich atemlos, wie nach einem langen Lauf, hervor. "Samantha meine Tochter...! Ich habe eine Tochter? Ja, ich erinnere mich!", murmelte mein Vater nun mehr zu sich selbst. Der 57-Jährige legte die Stirn in Falten. "Das blonde Mädchen auf den Bilder."
Er lächelte. Wieder.
"Das süße Mädchen! Samantha", seine Worte ergaben für mich keinen Sinn. Doch ich war ja auch verrückt.
Geisteskrank.
Ja, genau das war ich! Ich hatte irgendeine Störung. Oder hatte er die? Mir wurde das hier auf einmal alles zu viel. Viel zu viel. Als er sich dann vorbeugte und mich urarmte, mir sogar ein "Schön das du wieder da bist." ins Ohr flüsterte, drehten meine Sicherungen durch. Hatte meine Woche Abwesenheit ihn so sehr verwirrt?

Hastig löste ich mich von ihm und rannte in mein Zimmer. Er folgte mir nicht. Weinend schmiss ich mich aufs Bett, vergrub mein Gesicht im Kissen.

"Opfer!"

"Dich will hier niemand haben!"

"Geh sterben du Missgeburt!"

"Oh, ist die kleine Schlampe wieder hingefallen?"

"Dich will eh keiner haben. Sieh es endlich ein!"

"Warum lebst du überhaupt?"

"Oh, bist du wieder verwundet?"

All die Jahre, all die Beleidigungen. Sie kehrten mit einen Mal zurück. Sie überrollten mich und erdrückten mich. Sie hatten Recht. Sie hatten die ganze Zeit Recht! Ich war Schuld, nicht sie! Ich habe meine Mutter sterben lassen, ich war Schuld! Ich hatte es verdient.

Verdient!

Geisteskrank!

Schuldig!

Nicht Schuldig!

Tod!

Kind!

Krank!

Sterben!

Nicht krank!

Schläge!

Unschuldig!

Es wurde mir so zu viel. Ich spürte es. War ich nun schuldig oder nicht? Verdiente ich es oder nicht? Warum war er heute so nett? Wieso hatte er mich nicht erkannt? Warum? Aber andererseits...

Ich verstand ihn. Auf einmal verstand ich meinen Vater. Ich war krank. Er hat mir nur zu helfen versucht. so muss das gewesen sein. All die Schläge, all dies war nur zu meinem besten gewesen...

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt