42 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Ich war weggerannt. Kurz nach meinem halben Geständnis, hatte ich mich umgedreht und war nach Hause gegangen. Sehr schnell. Es war mir peinlich. Ich hatte etwas gesagt, was ich niemals hätte sagen sollen. Lucas war mir nicht gefolgt. Leider. Oder zum Glück. Ich weiß es nicht.
Ich wollte ihn nicht sehen. Auch jetzt nicht. Gestern war ich bei ihm gewesen und nun würde ich ihn wiedersehen, hier in der Schule. Ein Glück war Freitag. Nach diesem Tag, wäre endlich Wochenende. Zwei Tage Ruhe vor Lucas und zwei Tage Terror von meinem Vater.

Zitternd stieg ich aus meinen Wagen aus und ging mit weichen Knien zum Eingang. Schaute mich jeder an? Ja. Verdammt, gefühlt jeder Mensch hier schaute mich an. Lachten sie etwa über mich? Hecktisch atmend huschte ich weiter Richtung Eingang. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass mich niemand mehr anschaute. Gefühlt aber hatte ich tausend Blicke auf meinen Rücken. Im Klassenzimmer angekommen, machte ich mich ganz klein. Meine Lehrerin, welche zu früh da war, nickte mir kurz zu, dann sah sie weiter in ihre Unterlagen. Ich verkroch mich auf meinem Platz und zog mir die Kapuze über den Kopf.
"Buh" Kreischend fuhr ich herum und sah mich panisch um. Meine Augen huschten hin und her, bis ich das Gesicht von der Person erfasste. Lucas. "Tschuldige", nuschelte er in seinen aktuell nicht vorhandenen Bart. "Ich wollte dich nicht erschrecken." Ich zuckte mit den Schultern. Bloß nichts sagen, es könnte nur wieder falsch sein. Er ließ sich einfach auf den Platz neben mich fallen und sah mich interessiert an. "Wieso bist du gestern einfach abgehauen?"
Warum bist du mir nicht gefolgt?
Meine Gedanken spielten verrückt, doch ich schwieg weiterhin. "Hey, es ist doch nicht schlimm, dass dein Vater ein Alkoholproblem hat. Viele Menschen haben das. Du kannst ja nichts dafür", lächelte er beruhigend und strich mir einer verirrte Strähne aus dem Gesicht. Mal wieder zuckte ich zurück.
Du verstehst das nicht!
Ich wollte ihn für seine Ahnungslosigkeit anschreien, doch kein Ton verließ meine Lippen.

Nun begann er vor meinem Gesicht mit den Fingern zu schnipsen. "Huhu, Erde an Samantha, jemand zu Hause?" Ich schüttelte erst den Kopf, doch dann nickte ich. "Gut zu wissen", lachte er und schüttelte den Kopf. Ich lächelte gequält. Ich war wie eine Puppe. Eine aufziehbare Puppe. Ich reagierte mit meinen eingespeicherten Möglichkeiten, mehr konnte ich nicht. Meine Lehrerin rettete mich vor einem richtigen Gespräch. Klatschend lenkte sie die Aufmerksamkeit auf sich. Nach zehn Minuten des Unterrichts teilte sie Zettel aus. Dann begann sie Gruppen einzuteilen. Ich hörte nicht zu. Eine Puppe kann schließlich auch nichts hören. Mir war, als wäre Watte in meinen Ohren.
"Hey, geil, wir sind in einer Gruppe", jubelte Lucas los und hielt mir seine Hand zum einklatschen hin. Ich reagierte nur mit einem müden Blick. Er verdrehte die Hände und klatschte bei sich selbst ein. "Das war jetzt echt peinlich", bemerkte er und schüttelte gespielt beleidigt den Kopf. Ich zuckte mit den Schultern. Wieso war ich heute nur zur Schule gegangen?

Meine Lehrerin redete weiter. Wir sollten eine Szene von Maria Stuart modernisieren und aufführen. Fünf Minuten sollte das Stück schon gehen. Lucas, Paula, Jackson und Isabella waren in meiner Gruppe.
Juhu.
Anscheinend durften wir schon anfangen zu arbeiten, denn die anderen kamen mehr oder weniger begeistert zu uns. "Luci", quiekte Isabella. Wie ein kleines Schweinchen. Dann fiel ihr Blick auf mich und ihre aufgesetzte Schönheit wich ihrer echten Hässlichkeit. "Och nö. Was will die Schlampe denn in unserer Gruppe", fauchte sie genervt und ließ sich theatralisch auf den Stuhl neben Lucas fallen. "Falls du es nicht mitbekommen hast: Sie ist in unser Gruppe", kommentierte Paula sachlich und schob sich ihre Brille zurück auf die Nase. Ich sah sie leicht lächelnd an. "Och nö.", jammerte die Blondine erneut und seufzte mehrmals.
Kann die eigentlich auch was anderes sagen?
Ich hob nicht einmal eine Augenbraue. Jackson schwieg ebenfalls. Anscheinend war es ihm genauso peinlich wie mir. Vorgestern waren wir noch im Bett, heute saßen wir an einem Tisch. Wobei man ja sagen musste, dass ich es definitiv nicht wollte. Was kam als nächstes?

"Worum geht es da überhaupt", Isabella ließ eine Kaugummiblase platzen und wedelte mit dem Buch umher. "Hey, du. Schlampenstreberin. Du weißt doch sonst immer alles. Worum geht es?" Ich verdrehte die Augen und sah sie an. "Hast du das Buch etwas nicht gelesen?", sprach Lucas meine Gedanken aus. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt. "Nö."
Die kann wahrscheinlich nicht mal lesen.
"Oder hast du mal im Unterricht aufgepasst? Wir besprechen das Buch schon seit zwei Wochen im Unterricht", bemerkte nun Paula, band sich ihre schwarzen Haare zu einem Dutt und schüttelte leicht fassungslos ihren Kopf. Isabella zuckte nur mit den Schultern. Ihr konnte alles egal sein. Sie würde eh von Daddylein alles erben und müsste nie arbeiten gehen. Paula seufzte nun. "Gut, welche Szenen wollen wir modernisieren", übernahm sie die Leitung. Wir anderen sahen sie schweigend an. "Szenen", echote Isabella nun schrill, so dass Lucas angewidert das Gesicht verzog.
Waren die nicht irgendwann mal zusammen gewesen?
"Ja, Szenen", knurrte Paula leicht genervt, verzog ebenfalls das Gesicht und massierte ihre Ohren. "Danke, jetzt bin ich taub. Wir müssen auf eine fünfminütige Darstellung kommen. Da reicht nicht nur eine Szene", erklärte sie gereizt. "Stirbt die Olle nicht am Ende", wieder platzte eine Kaugummiblase. "Du hast es erfasst." Paula warf die Hände zum Himmel. "Danke, Danke Gott, dass du sie doch noch mit einem Gehirn beschenkt hast." Jetzt lachten Lucas und Jackson. Ich nicht. Vielleicht würde ich aus dem Kreuzfeuer ausgelassen werden, wenn ich einfach nur still da sitzen und nichts würde. Nun lehnte sich Isabella zurück und verschreckt provozierend die Arme. "Ich bin dafür, dass Samantha die Schlampe namens Maria spielt. Die hatte doch auch mehrere Typen? Also, wer könnte eine Schlampe besser darstellen als eine Schlampe? Und wenn sie am Ende stirbt, tut sie am Ende uns allen ein Gefallen." Ein selbstzufriedenes Lächeln schlich sich auf Gesicht. Ausdruckslos sah ich sie an. War sie nicht die Hure an diesem Tisch? In ihren Augen funkelte purer Hass. "Sagtest du nicht, du hast das Buch nicht gelesen", bemerkte nun Paula angesäuert. Bevor Isabella war erwidern konnte, kam nun auch über Jacksons Lippen Wörter. Endlich. "Wenn schon eine Schlampe von einer Schlampe gespielt werden soll, dann wäre das die perfekte Rolle für dich, Isabella", ihr Name sprach er aus wie etwas giftiges. Erstaunt sah ich ihn an. Hatte er sowas wie ein gewissen entwickelt?

Empört plusterte sie sich wie ein Kugelfisch auf. Es fehlten nur die Stacheln und Blubb-Blasen um sie herum. "Was soll das denn heißen?" Ihre Haare flogen nach hinten, ihr ganzer Körper war wie eine Sprungfeder gespannt und sie funkelte Jackson wütend an. Doch dieser ließ sich nicht provozieren. Er kannte sie schon zu lange um zu wissen, dass sie so gefährlich wie ein kleiner Hamster war. Ihre Welt bestand aus einem Laufrad aus Mode, Klatsch und Falschheit. "Das heißt, dass du eine gottverdammte Hure bist, die mit jedem ins Bett geht." Nun drehte sich auch Lucas zu ihr um. "Du tust was", fragte er laut. Es wurde stiller um uns herum. Mein Kopf landete auf der Tischplatte. Konnte es denn noch schlimmer werden? Fast jeder bekam nun unsere Auseinandersetzung mit. Also deren Auseinandersetzung, ich war nur ein weiterer Zuschauer. "Lucas, er lügt", versuchte sie sich zu verteidigen, doch ihre schrille Stimme brach. Mit einem Gegenangriff hatte sie nicht gerechnet. Vermutlich wollte sie eher mich anprangern, weil ich mit ihrem Freund geredet hatte. "Betrügst du mich etwa?" "Also, was haltet ihr vom Treffen der Königinnen? Wer möchte wer sein", versuchte Paula die Situation zu entschärfen, doch nur ich hörte ihr zu. "Ja, Lucas das tut sie. Andauernd. Sie war fast schon mit jedem Jungen im Bett. Besonders gerne mit Diego", antwortete Jackson und sah Isabella provozierend an. Ich glaube, die beiden sind Geschwister. Anders könnte ich mir das Insiderwissen nicht erklären. "Du tust was? Bedeutet dir unsere Beziehung so viel", schnauzte Lucas sie zusammen. Nun wurde auch unsere Lehrerin auf uns aufmerksam. "Ehrlich, das ist ja wohl das Allerletzte. Es ist aus. Verstanden? Wir sind kein Paar mehr", bellte Lucas laut los, bevor seine beleidigte Freundin was sagen konnte. So laut er auch redete, irgendwie glaubte ich, dass er sich freute. "Samantha, willst du nicht Elisabeth spielen? Ich glaube, dass gefühllose steht dir", redete Paula weiter. Tränen traten in Isabellas Augen, dann sprang sie auf und rannte raus. Unsere fluchende Lehrerin hinterher. Jackson lehnte sich zufrieden zurück. Anscheinend hatten die beide irgendeinen Krieg zu führen.
Langsam drehte ich den Kopf zu meiner Gruppe. "Ich glaube, Elisabeth wäre die perfekte Rolle für mich", antwortete ich in die Stille.

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