60 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Schweißgebadet wachte ich auf. Hektisch fuhr ich hoch und sah mich um. Ich sah nichts. Es war stockdunkel. Panisch schmiss ich die Decke von mir, stand schwankend auf und lief los. Ich kam nicht weit, denn im nächsten Moment stolperte ich schreiend über etwas am Boden und fiel. Mit Glück fing ich meinen Sturz mit der heilen Hand ab. Das Etwas bewegte sich augenblicklich. "O mein Gott Sam. Ist alles in Ordnung", fragte eine verschlafene Stimme und Augenblicke später machte der Junge eine Taschenlampe an. Hecktisch atmend erkannte ich ihn, Lucas. "Wo bin ich", fragte ich mit kratzigem Hals. Hustend richtete ich mich auf und lehnte mich ans Bett. "Hier trink erstmal was!" Fürsorglich nahm er ein Glas Wasser vom Nachttisch und reichte mir dieses. Zitternd klammerte ich mich daran fest und trank es gierig aus. "Wo bin ich", fragte ich erneut und packte das Glas noch fester. "Bei mir Zuhause", erklärte er leicht verlegen. Peinlich berührt sahen wir uns an. "Wieso denn das?" Erschöpft sah ich ihn an. "Dein Bruder meinte, hier wärst du besser aufgehoben als bei euch in der Villa." "Die Villa des Teufels", murmelte ich und fuhr mir durchs nasse Gesicht.

Entschieden nahm mir Lucas das Glas ab und setzte sich neben mich. "Willst du nicht wieder schlafen", gähnte er und musterte mich mit kleinen Augen. Gefangen in meinen Gedanken beobachtete ich den Kegel der Taschenlampe, welcher verspielt an der Decke tanzte. "Sam?" "Hm?" Müde schaute ich ihn an. "Schlafen?" Er lächelte und gähnte erneut. "Ich bin nicht müde", protestierte ich schwach, musste dann aber doch gähnen. "Doch bist du", lächelte er und haute auf das weiche Bett. "Na los, leg dich wieder hin. Ich passe auch auf sich auf!" Widerstrebend erhob ich mich und kuschelte mich wieder in das warme und große Bett. Lächelnd strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Schlaf gut", flüsterte er, doch ich packte seinen Arm. "Lass mich bitte nicht alleine", flehte ich leise. Panik machte sich in mir breit. Er nickte, dann legte er sich wieder auf die Isomatte. "Lucas", wisperte ich nach einiger Zeit in die Dunkelheit. "Jaaaa", kam schlaftrunken die Antwort. "Du bist noch da", stellte ich erleichtert fest und kuschelte mich nun richtig in das Bett.

Am nächsten Morgen war Lucas fort. Leicht panisch torkelte ich durchs Zimmer. Vollkommen orientierungslos öffnete ich die Tür und schwankte in den Flur. Von unten hörte ich Stimmen. Ich folgte deren Klang die Treppe runter und fand die anderen im Esszimmer. "Oh, du bist schon wach!" "Samantha, Schätzchen. Setz dich doch!" "Mum bitte, nenn sie nicht so!" "Samantha!!!!!!" Lächelnd sah mich jeder aus der Familie an. Verlegen blieb ich stehen. Kopfschüttelnd schob Lucas einen Stuhl zurecht und zeigte einladend darauf. Unsicher setzte ich mich hin. "Guten Morgen." Steif saß ich da und sah die gut gelaunten Menschen an. "Willst du irgendwas spezielles trinken? Tee? Kaffee?" Fürsorglich sah Alicia mich an. Kopfschüttelnd lehnte ich ab. Ich bekam kein Wort heraus. Lucas zu meiner linken lud mir entschieden zwei Scheiben Toast auf den Teller. Keinem der Anwesenden sah man die frühe Uhrzeit an. Frisch und munter unterhielten sich seine Eltern, während er mir immer mehr Essen auf den Teller lud. Irgendwann legte ich schützend meine Hand über den vollen Teller. Verlegen grinsend schmiss er sich die Wurstscheibe auf sein Brötchen und biss herzhaft an. "Ich muss gleich los zur Schule", mampfte er und verdrehte die Augen. "Meine Eltern erlauben mir nicht hier zu bleiben." Er hielt anscheinend wenig von deren Idee. Zaghaft biss ich von meinem Marmeladentoast ab. "Sam, ich würde sagen, du bleibst heute lieber zu Hause. Du bist noch sehr blass", lächelte Alicia. "Mum hat dich schon vollkommen adoptiert", amüsierte sich Lucas und grinste breit. "Gar nicht wahr", protestierte sie lächelnd. "Doch es ist wahr", schmunzelte ihr Mann und erhob sich. Hilflos sah ich die Familie an. "Ich muss dann mal los. Die Arbeit macht sich nicht von alleine." Grunzend richtete er sein Hemd und gab seinen Kindern einen Abschiedskuss auf den Kopf, wobei Lucas sich hastig weg duckte. "Dad, du bist peinlich", meckerte er. "Tschüss ihr Hübschen! Und Schatz, erdrücke Sam nicht so mit deiner Fürsorge", feixte er und verschwand aus dem Raum. "Ich habe mir extra für heute frei genommen", erklärte die Angesprochene leicht feierlich. "Oh.. ähm Danke. Aber Sie müssen sich wegen mir wirklich nicht so viele Umstände machen", nuschelte ich und sah peinlich berührt auf meinen Teller. "Ach papperlapap! Einen Tag weniger arbeiten schadet nicht. Und du kannst mich duzen, dass weißt du doch."

"Mum. Du bist so peinlich", stöhnte Lucas. Fassungslos sah er seine Mutter an. "Für Lucas sind wir alle peinlich", lachte seine Mutter, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und erhob sich ebenfalls. "Hop hop. Ihr müsst noch Zähne putzen", diktierte sie und wedelte wie wild mit ihren zarten Händen herum. "Das wissen wir! So vergesslich sind wir nun auch nicht.", moserte Sally und meldete sie damit zum ersten Mal zu Wort. Dann zerrte sie Lucas mit sich hoch. Als ich ebenfalls aufstehen wollte, drückte Alicia mich zurück auf den Holzstuhl. "Und du isst jetzt schön fleißig weiter. So dünn kannst du nicht bleiben", erklärte sie und legte mir eine frisch getoastete Toastscheibe auf den Teller und strich großzügig Nutella darauf. "Das kann ich auch selbst", meinte ich leicht verzweifelt. Mehr essen konnte ich auf keinen Fall. "Papperlapapp. Du musst erst mal zu Kräften kommen! Ein Wunder, dass du gerade stehen kannst. So dünn wie du bist!" Mit diesen Worten schenkte sie mir noch einmal Orangensaft nach. Tapfer biss ich von dem warmen Toast ab. Allerdings hatte Alicia so viel Nutella drauf geschmiert, sodass die erwärmte Schokoladencreme über mein Kinn und meine Finger runter floss. Angewidert ließ ich den Toast fallen und versuchte den Schaden in meinem Gesicht zu minimieren. "Na, mästet meine Mutter dich", lachte Lucas von hinten und ließ sich neben mich auf den Stuhl fallen. Er war schneller zurück als gedacht. Obwohl seine Mutter den Tisch gerade abräumte und lautstark in der Küche hantierte, hörte sie jedes Wort sofort und begann zu protestieren: "Ich mäste hier niemanden! Sie muss nur etwas zunehmen." "Deshalb hast du sie auch in Nutella baden lassen", amüsierte er sich und fuhr sich durch die Haare. "Ich würde dich ja gerne retten und mitnehmen, aber ich glaube, dann kriege ich richtig Ärger." "Schon in Ordnung", schmatzte ich und versuchte die etwas klebrige Schokolade von meinem Gaumen zu lösen. "Du solltest dich jetzt sehen. Du kleines Nutellamonster", feixte er und reichte mir eine Servierte. Dankbar machte ich meine Finger sauber und wollte pflichtbewusst weiter essen, auch wenn mir kotzübel war, doch er unterband meine Bewegung, indem er seine Hand auf meine legte. Rasch zuckte ich zurück. "Lass nur. Zu viel essen ist auch nicht gesund. Du bist es ja nicht gewohnt." Schuldbewusst ging er wieder auf Abstand. "Ich muss los. Halte die Ohren steif!" Schweigend beobachtete ich, wie die Geschwister das Haus verließen. Dann fiel mein Blick auf den Toast. Mein Vater hatte mich früher einiges gelernt. Eine Regel bei uns was: Aufessen! Und da ich eh immer wenig aß und zu essen bekam, tat ich es auch. Ich hatte öfter mal gewagt, nicht aufzuessen.
Nie wieder.
Und ein Problem an Angewohnheiten war, dass man sie nicht ablegen konnte. Vor allem wenn man Angst vor den Reaktionen hatte. Also würgte ich Stück für Stück in mich herein. Die Schokolade tropfte von meinem pappigen Toast runter, doch ich kämpfte weiter bis ich aufgegessen hatte.

In dem Moment wo Alicia mit den Worten "Du musst nicht aufessen. Lucas hat vollkommen recht. Ich habe nur vergessen, dass du es nicht gewohnt bist, normal zu essen" zurück kam, sprang ich auf und rannte würgend zur Toilette. Der Tag würde anstrengend werden.

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt