41 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Wenig später saßen wir am großen Esstisch. Das Essen war wirklich lecker, was ich Alicia auch sofort nach dem ersten Bissen versichert hatte. Erst danach konnte sie beruhigt selbst essen. Sally starrte mich die ganze Zeit an. Die Kleine war so auf mich fokussiert, dass die Gabel schon mehrmals gegen ihre Wange krachte und das Essen zurück auf den Teller fiel. Irgendwann schien es Christian zu reichen. "Sally. Jetzt schau auf deinen Teller. Beim nächsten Mal landet die Gabel sonst noch in deinem Auge und ich fahre dich nicht ins Krankenhaus", grummelte er. Damit war ein Machtwort gesprochen. Somit sah Sally mich mit ihren großen braunen Kulleraugen nur noch beim Trinken an. Und auf einmal trank sie nur noch aus ihrem Glas. Auch als dieses schon lange leer war.

"Sally, Schatz. Willst du vielleicht noch was trinken", fragte ihre Mutter da auch schon und goss ihr großzügig was nach. "Du isst ja kaum was. Schmeckt es dir nicht", bemerkte Sally plötzlich und musterte mich interessiert. Sofort sahen mich alle an. Ein schneller Blick auf die anderen Teller verriet mir, dass die Anderen deutlich schneller mit ihren Portionen voran kamen als ich. Ich schluckte schwer. "Doch, es ist wirklich total lecker. Ich bin nur nicht so eine Schnellesserin. Ich esse generell auch nicht so viel", gab ich eher kleinlaut zu. Sofort sprang Christian drauf an und rettete mich vor weiteren Fragen der Kleinen. "Schnell essen ist auch nicht so gesund. Du wirst viel besser satt, wenn du langsam isst und kaust. Das ist auch deutlich gesünder", erklärte er Sally. "Außerdem...", ergänzte Lucas mit vollem Mund. "...hast du noch nicht mal drei Gabeln gegessen. Also hacke nicht auf Sam rum. Das ist sehr unhöflich. Sie ist schließlich zu Gast hier." Beleidig sah seine kleine Schwester ihn an und schob sich demonstrativ eine volle Gabel in den Mund. Kauend schaute sie ihn an, zog die Augenbrauen hoch und musterte ihn mit ihrem prüfenden Blick.

"Und Sam, weißt du schon was du später werden willst", fragte Christian nach einigen Minuten des Schweigens. Hastig schluckte ich meinen Bissen runter. Wieso mussten Erwachsene immer an die Zukunft denken? "Ehrlich gesagt: keine Ahnung", antwortete ich ehrlich. "Echt nicht? Willst du die Firma deines Vaters übernehmen? Oder Ärztin werden? Anwältin", fragte Lucas Vater interessiert weiter und trank einen Schluck Rotwein.
Boden tue dich auf. Bitte.
"Nein, die Firma meines Vaters übernehme ich bestimmt nicht. Ich weiß nicht einmal, was das genau für eine Firma ist. Ärztin wäre auch kein Job für mich. Ich kann Menschen nicht leiden sehen. Also...ihr wisst schon was ich meine. Die Wunden und so. Vielleicht studiere ich ja irgendwas anderes", wich ich unsicher aus und schaute auf meinen Teller, auf welchem ich mein Essen wieder von A nach B schob. "Stimmt, jetzt wo du es sagst. Ich habe dich noch nie bei einem Treffen der Firmen gesehen. Aber du musst doch eine Ahnung haben, in welche Richtung dein Traumberuf gehen soll", bohrte er weiter nach. Lucas seufzte genervt auf. "Naja, also... vielleicht Lehrerin. Oder Pädagogin. Autorin gefällt mir auch. So als Nebenjob", ich merkte wie ich rot anlief. Das war mir eindeutig viel zu persönlich und vertraulich. Und trotzdem erzählte ich es hier. Das war mal wieder typisch ich. Ein Geheimnis war bei mir nie lange sicher, da ich immer das Verlangen verspüre, es allen recht zu machen und alles zu beantworten. "Schauspielerin oder Model wäre auch was für dich", wandte Alicia ein. Sofort hob Lucas den Blick. "Was? Sie ist doch eine Schönheit", grinste sie und kaute genüsslich auf einem Kartoffelstück rum. "Mag sein. Aber fürs modeln bin ich zu klein und außerdem hätte ich damit schon viel früher anfangen müssen", wich ich wieder aus und aß hastig weiter. Konnte dieses Thema irgendwann beendet sein?

"Und was ist mit der Firma deines Vaters", neugierig sah mich Christian an. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Mir wurde abwechselnd kalt und heiß. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn, doch so selbstsicher wie möglich antwortete ich: "Was soll damit sein?" Mein Blick fiel auf die Kleinste am Tisch. Sally stierte mich unentwegt an. Analysierte jede meine Bewegungen. Versuchte hinter meine Fassade zu schauen. Was zur Hölle war nur falsch mit diesem Kind?
Ich merkte es und das machte mir Angst. Christian lenkte mit einer ausladenden Handbewegung meine Aufmerksamkeit auf sich. "Irgendjemand muss sie ja übernehmen. Am besten jemand aus eurer Familie. Und dein Bruder kommt ja nicht in Frage. Soweit ich weiß, will er ja nichts damit zu tun haben und Anwalt oder so werden", erläuterte er. "Ich will auch nichts damit zu tun haben. Wie gesagt, ich weiß nicht einmal, was das für eine Firma ist", erwiderte ich und würgte hastig weiteres Essen herunter. Mir war jetzt schon schlecht. Solange mein Mund voll war, konnte ich allerdings nicht reden und deshalb aß ich hastig weiter. "Das heißt dann ja, dass niemand aus der Familie eure Firma übernehmen wird", nachdenklich legte er die Stirn in Falten.

"Dad. Plane deine Firmenübernahmen bitte woanders", stöhnte Lucas auf und sah ihn finster an. Anscheinend reichte es ihm jetzt. "Was denn? Ich darf mich ja wohl mit unserem Besuch unterhalten." "Jaja, unterhalten. Aber nicht durchlöchern", Lucas Augen waren inzwischen zu Schlitzen geformt, seine Hände ballten sich um das Besteck zu Fäusten und auch sonst wirkte er sehr gereizt. "Sam, stören dich meine Fragen", fragte Christian mich dann auch schon. Sein Ton klang ehrlich besorgt. "Nein, alles gut", nuschelte ich und sah von Lucas zu seinem Vater hin und her. Ich würde einen Teufel tun und die Wahrheit sagen. Die Spannung gefiel mir nicht. "Sag mal Sam...", begann Christian erneut, doch Lucas unterbrach ihn ruppig. "Dad. Langsam reicht es echt!" "Eine Frage noch. Das wird schon niemanden hier umbringen." Während Vater und Sohn ein Blickduell starteten, schob Sally sich immer mehr Essen auf einmal in den Mund. Alicia hielt sich aus der Diskussion raus. Vermutlich kannte sie das Drama schon. Wieso beobachtete sie mich die ganze Zeit? Was hatte ich an mir? Hatte ich irgendwas im Gesicht?
Christian durchbrach meine Gedanken. Anscheinend hatte er den Kampf gewonnen. "Also, meine letzte Frage, versprochen. Trinkt dein Vater noch? Ich habe gehört, er sei ein Alkoholiker."

Klirr. Erst dachte ich, es wäre meine Gabel gewesen, welche scheppernd zu Boden gefallen war, doch dann sah ich, dass Lucas seine wütend auf den leeren Teller geschleudert hatte. "Dad", fauchte er nun erbost und sprang auf. Sein ganzer Körper bebte vor Wut. "Christian", entrüstete sich Alicia zeitgleich und sah ihren Mann geschockt an. "Sowas fragt man doch nicht." "Was ist ein Alkoholiker", fragte Sally da auch schon und sah ihre Eltern mit großen Augen an. "Gar nichts", erwiderten Alicia und Lucas gleichzeitig. "Halte Sam doch einfach aus diesem Firmenwettstreit raus! Suche dir von irgendeinem schmierigen Informanten die nötigen Infos um die Firma ihres Vaters zu ruinieren, aber halte sie daraus", wetterte Lucas jetzt los und schubste seinen Stuhl so stark zurück, dass dieser umkippte. "Ich glaube, ich sollte gehen", beunruhigt legte ich mein Besteck leise hin und wollte aufstehen, doch Lucas drückte mich auf den Stuhl zurück. "Danke, Vater. Dank dir, will mein Gast schon gehen. Schönen Dank auch", sein verbitterter Ton und seine verspannte Haltung sagten alles. "Aber Lucas, ich darf doch wohl fragen." "Aber nicht sowas", unterbrach der Angesprochene sogleich seinen Vater, welcher sich sorgsam über das graue Hemd strich. "Da muss ich Lucas ausnahmsweise mal Recht geben", mischte sich nun Alicia entrüstet ein. "Ich sollte jetzt ehrlich gehen", hastig stand ich auf. "Nein, Sam. Du bleibst hier. Mein Vater will sich noch entschuldigen." Lucas Hand schloss sich um meinen Arm und zerrte mich zurück. "Er hat recht. Es tut mir Leid Samantha. Ich bin wohl sehr übermüdet, denn sonst würde ich nicht so eine Frage stellen. Das war respektlos von mir", meinte da sein Vater auch schon, doch ich kaufte ihm seine Worte nicht ab. zögerlich nahm ich seine Hand entgegen und schüttelte sie. "Ich sollte jetzt trotzdem gehen." Resigniert nickte Lucas und ließ mich sofort los. Er erkannt wohl, dass Widerstand zwecklos war. "Danke für das Essen, Alicia. Es war echt köstlich", ich nickte ihr und Sally nochmal zu, dann hastete ich zur Haustür.

"Tut mir Leid. Normalerweise sind sie ganz in Ordnung", entschuldigte sich Lucas und versperrte mir den Ausgang. Immer wieder fuhr er sich durch die Haare. "Schon okay. Er wollte halt einfach etwas über mich wissen", wich ich aus und wollte seinen Pulli ausziehen, doch er hielt mich davon ab. "Gib ihn mir einfach die nächsten Tage wieder." Schweigend standen wir uns gegenüber. Aus der Küche drang eine leise Diskussion zu uns rüber, doch ich verstand kein Wort. "Es tut mir Leid. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber mir ist es wichtig, dass du nicht schlechtes von mir oder meiner Familie denkst", redete er schließlich weiter, wobei sein Blick immer wieder zur Küche flog. "Keine Angst, dass tue ich schon nicht", wandte ich hastig ein. "Mag ja sein, aber ich möchte es trotzdem nochmal gesagt haben." Er bückte sich und reichte mir Sportschuhe. Seine, nehme ich mal an. Verlegen grinste er. Ich biss mir auf die Lippe und strich mein Haar zurück. "Danke", wisperte ich und schlüpfte hinein. Kurz bevor ich die Haustür verließ, fasste ich auf einmal neuen Mut. Schwungvoll drehte ich mich um und sah zu ihm hinauf.

"Weißt du Lucas, ich habe mich nicht ausgeschlossen." Meine Hand krallte sich an meiner Tasche fest. "Ich bin von Zuhause weggelaufen." Seine Stirn legte sich wieder in Falten. "Dein Vater hatte Recht." Meine Atmung wurde immer schneller. "Mein Vater ist Alkoholiker."

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt