53 Kapitel

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Samantha P.o.V.

"Du musst eine Aussage machen", ereiferte sich mein großer Bruder immer weiter. Mit großen Schritten marschierte er wie ein Soldat durch das Zimmer. Seine Augen funkelten mich erbost an, doch ich beachtete den wütenden Anzugträger von Bruder nicht. "Sam, verdammt. Sie haben unseren Vater gefunden. Alles spricht zwar für ihn, aber..." "Wieso muss ich dann überhaupt eine Aussage machen", unterbrach ich ihn unwirsch. "Ich habe dir alles erzählt. Sie haben das Telefongespräch. Da ist auch Vaters Stimme drauf", meine Stimme brach ab.
Mit knirschenden Zähnen fuhr mein Bruder sich durch seine wilden Haare und setzte sich schwer seufzend an mein Bett. "Sie wollen es aber nochmal von dir hören, da es sein kann, dass ich lüge", erklärte er zum hundertstens Mal. Bockig verschränkte ich meine Arme. "Sam, bitte.", Basti sah mich müde an. "Ich komme hier morgen raus. Was passiert dann mit mir", wechselte ich abrupt das Thema. Basti fiel wie eine Marionette, welcher man die Fäden durchtrennt hatte, in sich zusammen. "Ich weiß es nicht. Das Jugendamt prüft meine Daten und ob ich für dich sorgen darf. Außerdem läuft mein Studium ja noch...." Der Satz blieb leer im Raum stehen.

Panisch riss ich meine Augen auf und sah ihn aus meinem gesunden Auge an. "Was passiert, wenn du nicht mein Vorgesetzter sein darfst? Wenn du nicht die Verantwortung bekommst und ich nicht bei dir wohnen darf? Ich bin noch nicht achtzehn." Tränen erstickten meine bebende Stimme. Langsam beugte mein Bruder sich vor und griff nach meiner zitternden Hand. "Sam, hör zu: Das wird niemals passieren. Niemals! Du bist meine kleine Schwester. Ich werde immer auf dich aufpassen. Aber genau deshalb ist es wichtig, dass du heute deine Aussage gegenüber den Polizisten machst. Damit sie wissen, dass ich dir nie was getan habe und für dich sorgen kann", flüsterte er und strich mir sanft die Tränen aus dem Gesicht. Schluchzend klammerte ich mich an ihn, wie eine Ertrinkende an einen Felsen. Meine langen Fingernägel bohrten sich durch sein Hemd in seine Haut, was er stumm über sich ergehen ließ. Ich wollte ihn nicht wieder verlieren. Auch wenn er mich alleine gelassen hatte, war er immer noch mein Bruder. Er war der Einzige, den ich noch hatte. Ohne ihn wäre ich verloren!

Die Polizisten kamen um halb drei. Das Ehepaar Meyer war vor zwei Tagen schon hier gewesen, doch ich hatte mich schlafend gestellt. Bislang war ich jeder Konfrontation aus dem Weg gegangen. Basti zur Liebe, hatte ich mir heute meinen weichen weißen Kuschelpullover angezogen und saß nun aufrecht auf einem der vier Stühle am kleinen Tisch in meinem Zimmer. Mein rechter Arm lag bewegungslos auf dem Tisch. Das große Fenster gab den Blick auf einen kleinen Park frei, wo Patienten das gute Wetter nutzten und spazieren gingen. Meine Brille thronte auf meiner Nase, doch ich konnte trotzdem nicht alles genau erkennen. Laut Mrs. Dr. Gray war meine Hornhaut im rechten Auge so stark beschädigt, dass ich nie wieder was sehen kann. Sie hatte auch noch ein paar weitere Beschädigungen aufgeführt, welche zu meiner Blindheit führten, doch mir fielen die Begriffe nicht mehr ein. Da ich eh eine Sehschwäche hatte, sah ich jetzt natürlich noch schlechter.
Scheiß Leben.
Die beiden Polizisten saßen mir relativ entspannt gegenüber, während ich ihre Blicke mied und schwieg. Super Gespräch würde ich mal sagen. "Also, Sam.", begann Mr. Meyer mit seiner harten Stimme. Sofort zuckte ich zusammen und sah ihn unsicher lächelnd an. "Ja", piepste ich. "Wir würden das Gespräch gerne aufnehmen. Wäre das für dich in Ordnung?" Hastig nickte ich, wobei meine Haare hin und her flogen. Wie ein Kaninchen die Schlange anschaute, so fixierte ich nun das Diktiergerät mit meinen grauen Augen. Ich musste meinen Kopf leicht schief legen, um es komplett und scharf zu sehen.
Scheiß totes Auge.
"Du bist Samantha Aurelia Duncan, richtig", begann die Frau des Hünen leicht lächelnd. "Ja." Meine Augen starrten weiterhin das kleine unscheinbare Gerät an. Ob es mich wohl angreifen würde? "Bist du siebzehn Jahre alt?" "Ja", wiederholte ich, wobei ich mich nun traute den Blick langsam zu heben. "Hast du, am 25. Juni 2015 die Polizei angerufen?" "Ja.....", es klang eher wie eine Frage aus meinem Mund, anstatt wie eine Feststellung. Naja, was soll es. "Dein Bruder, Bastian Duncan, hat ausgesagt, dass euer Vater dich schlagen und misshandeln würde. Du hättest ihm dies zum mindestens vor einigen Tagen erzählt."

Meine Lippe begann zu bluten, so heftig biss ich mir mit meinen Zähnen darauf. Eigentlich müsste ich nur ja sagen, doch ich schaffte es nicht. Also nickte ich wie wild. "Ist das ein ja?" "Ja", endlich kam dieses kleine Wort über meine spröden und blutenden Lippen. Erleichtert sackte ich in mich zusammen. Meine Energie für heute war restlos aufgebraucht.
Schweigen machte sich erneut breit. Nervös spielte ich mit meinen Fingern an meiner Hose und sah immer wieder unsicher auf. "Was passiert jetzt mit meinem Vater", unsicher biss ich mir auf die Unterlippe. Ich würde in die Hölle kommen für das was ich ihm hier an tat. "Peter Duncan wird vors Gericht kommen und dann wahrscheinlich in eine psychiatrische Anstalt. Sein Geständnis zeugte jedenfalls von einer geistlichen Störung", erklärte Mr. Meyer. "Geständnis? Ich dachte, er sei verschwunden", echote ich mit schriller Stimme. "Hat dir das niemand erzählt", fragte die Polizistin erstaunt und griff nach dem Diktiergerät. "Er hat sich vor fünf Tagen selbst gestellt. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft!"

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt