45 Kapitel

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Samantha P.o.V.

Die Vase lag zerschlagen auf dem Boden.

Langsam, vorsichtig und wachsam, näherte ich mich den Scherben. Leise schloss ich die Tür hinter mir und betrat das Wohnzimmer nun komplett. Es war leer. Hastig band ich meine Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen und hockte mich neben die Vase. Ich würde sie nicht retten können.
Die Scherben waren zu klein, die Risse zu fein. Ich konnte kaum noch erkennen, was zusammen gehörte und was nicht. Der kleine Holztisch stand noch unberührt an seinem Platz, die leicht verwelkten roten Rosen waren verteilt, der teure Teppich aus einem anderen Jahrhundert hatte sich mit dem abgestandenen Wasser vollgesogen. Doch das störte mich nicht. Die Vase, ihre Vase, war zerstört. Fassungslos griff ich nach den Scherben. Es war Mums Vase gewesen. Sie wurde schon seit Jahrhunderten in ihrer Familie vererbt und kurz bevor sie gestorben war, hatte sie mir diese Kostbarkeit gegeben und mir das Versprechen abgenommen, dass ich sie beschützen und meinen Kindern geben werde. Es war nicht viel was ich von ihr hatte, aber es war etwas von ihr gewesen. Damals war ich fünf und hatte sie dementsprechend an ihrem Platz gelassen. Ich hatte keine Verwendung dafür. Eine Vase konnte schließlich auch nicht meine Mutter ersetzen. Und nun war sie zerstört.

Tränen liefen über mein Gesicht. Mühevoll sammelte ich die Scherben ein. Sie zerschnitten meine Handflächen, doch das störte mich nicht. "Es tut mir Leid. Mum. Es tut mir so Leid", schluchzte ich erbärmlich weiter und krümmte mich in den Scherben zusammen. "Ich habe mein Versprechen gebrochen. Was bin ich nur für eine Tochter?"
Eine schlechte.
Wimmernd sammelte ich die Scherben an. Jede einzelne Scherbe würde ich behalten. Das war das Mindeste was ich tun konnte, nachdem ich schon versagt hatte, diese Vase zu beschützen. Ich würde nur noch die Scherben vererben können.
Loserin.
Mit schweren Schritten ging ich zum Schrank, holte ein Porzellankästchen heraus und legte alle gesammelten Scherben hinein. "Es tut mir Leid", murmelte ich und stellte das Kästchen auf die Fensterbank. "Es tut mir Leid. Bitte hasse mich jetzt nicht dafür. Bitte..." Es war sinnlos zu flehen. Sie hörte mich eh nicht. Gedankenverloren sah ich in unseren großen Garten. Früher habe ich dort gerne gespielt. Mit meiner Mutter hatte ich Schmetterlinge gesucht und beobachtet, kleine Grashüpfer gefangen und vieles mehr. Ich war glücklich.

Ich war glücklich, wenn ich mit meinen Freundinnen fangen gespielt hatte. Ich war glücklich, wenn ich auf der großen Schaukel geschaukelt hatte. Ich habe jedes Mal aufs neue gedacht, ich könnte fliegen. Ich war glücklich, wenn ich einfach mit meiner Familie im Garten gegessen habe. Wenn wir zusammen was gemacht hatten.
Heute war die Rutsche halb mit Moos bewachsen und die Schaukel war so verwahrlost, dass sie sofort zusammenbrechen würde, würde ich mich nur raufsetzen. Die damals schönen Blumen waren vom Unkraut besiegt worden und das, ehemals mühevoll gepflegte, Gemüsebeet meiner Mutter war dem Unkraut und den Schnecken zum Opfer gefallen. Der ganze Garten war so zerstört, wie ich mich innerlich fühlte: Kaputt und von Ungeziefer befallen.

Schritte ertönten und die Tür hinter mir öffnete sich. Im schwachen Spiegelbild des Fensters konnte ich meinen Vater erkennen. Leicht gebeugt kam er herein und brachte einen Schwall stinkender Luft mit. Alkohol, Rauch, Deo, Schweiß.
Absolut ekelerregend.
Schlurfend näherte er sich dem Unglücksorts. Mit dem Fuß kickte er eine Rose weg, dann grunzte er auf. Ich starrte weiterhin geradeaus. Sehr aufmerksam widmete er sich nun dem Fleck auf dem Boden. Wenn er gerne stinkendes Blumenwasser betrachten wollte, sollte er das ruhig machen. Er war schließlich schuld daran. Unbeteiligt sah ich weiter raus. Ein lautes Poltern ertönte. Der Tisch war nun auch umgefallen. Er gehörte auch meiner Mutter. Doch inzwischen war es mir egal. Er würde eh alles kaputt machen, wenn er es nur wollen würde. Da würde ihn niemand von abhalten können. "Du", blökte er los. "Mach dich mal nützlich und räume den Scheiß hier weg." Langsam drehte ich mich um. Tränen glitzerten im meinen Augen. Mein Blick wanderte von dem zerkratzten Tisch über die zerstreuten und zertrampelten Rosen bis hin zum Übeltäter. "Was hast du getan", flüsterte ich leise. "Hä", seine grauen Augen stierten mich erstaunt und wütend an. Er bekam selten Fragen von mir zu hören. "Ich sagte: Was hast du getan", wiederholte ich etwas lauter und ballte meine Hände zu Fäusten. Wut machte sich in mir breit. "Was hast du gesagt", seine Stimme gewann wieder an Festigkeit, gemischt mit einem Hauch von Grausamkeit. "Muss ich das ernsthaft wiederholen", fragte ich und kam zwei Schritte auf ihn zu.

I'm not living, I'm just survivingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt