"Das war peinlich", stellte ich rot werdend fest. "Wieso denn? Sie ist doch total nett", wandte sie ein und runzelte die Stirn. "Trotzdem hätte ich auf diesen Auftritt verzichten können", entgegnete ich und fuhr mir erneut durch die Haare." Ich liebte meine Mutter wirklich, aber ihre Auftritte waren immer peinlich. "Wieso? Ich meine, sei doch froh, dass du sie noch hast." Ihr Ton klang abweisend und leicht anklagend. Mistkacke. Stimmt. Ihre Mutter war ja tot. "Sam. Tut mir Leid. Ich weiß ja, dass deine Mutter...", ich wagte es nicht weiter zu sprechen. "...tot ist? Ja. Ja, sie ist tot. Aber schon ziemlich lange", beendete sie meinen Satz und sah mich leicht traurig an. Kurzentschlossen umarmte ich sie und drückte sie fest an mich. Sie ließ es zu. Stumm und unbeweglich stand sie da, bis die Tür wieder aufgerissen wurde. Sofort sprangen wir wieder auseinander.
Meine Familie hatte ein Talent darin, immer in den ungünstigen Momenten aufzutauchen. Irgendwie waren wir wohl doch mehr als ein paar Minuten so stehen geblieben. Sie in meinen Armen, mein Gesicht in ihren Haaren. Und nun hatte uns meine nette kleine Schwester gestört.

"Ihhhh. Was macht ihr denn da", rümpfte sie die Nase. "Sally", seufzte ich entnervt. Hatte man in diesem Haus denn nie seine Ruhe? "Das Haus ist groß genug. Geh woanders spielen", wollte ich sie rausschmeißen, doch sie baute sich in der Tür auf. Wie ein Miniaturtürsteher. Ein Türsteher mit braunen Zöpfen und Farbe an den Händen. "Ich will nicht spielen. Nicht mit dir. Du bist blöd. Ich soll euch zum Essen holen", sie sah mich motzig an. "Wir kommen ja schon." Doch sie bewegte sich immer noch nicht. "Wer bist du", fragte sie die Blondine neben mir und reckte neugierig das Kinn vor, die kleinen Arme vor der Brust verschränkt. "Samantha. Und du bist....?" Sam hatte sich jetzt neben mich gestellt und lächelte meine Schwester erfreut an. Doch Sally drehte sich rasant um und lief flink zur Treppe. Eine Sekunde später hörten wir sie brüllen: "Muuuuummmmm. Daaaaaaaaddddddd. Lucas und Samantha haben rumgemacht!!"

"Sally. SALLY", brüllte ich erbost und stürzte ihr hinterher. Dieses kleine Miststück. Polternd rannte ich ihr hinterher und nahm immer zwei Treppenstufen auf einmal, wobei ich dadurch fast hinfiel. Hinter mir kam Sam eher gesittet die Treppe runter. Verunsichert beobachtete sie das Treiben. Kurz vor der Küche holte ich meine kleine Schwester ein und packte sie an den Schultern. "Was hast du gerade gesagt", fragte ich und begann sie zu kitzeln. Sofort kreischte sie los und schlug wie wild um sich. Doch gegen mich hatte sie keine Chance. Ich war schließlich um einiges größer als sie. Da konnte sie noch so viel strampeln,ich würde nicht nachgeben. Schließlich war es das Recht des großen Bruders, die kleine Schwester erbarmungslos zu ärgern. Sam erschien neben mir und sah sich unsicher um. Doch auch ihre Anwesenheit ließ mich nicht davon abhalten, meine kleine Schwester zu ärgern. Einzig meine Mutter schaffte es. Diese erschien, Kochlöffel schwingend, im Türrahmen und sah uns böse an. "Jetzt hört doch mal auf. Ihr benehmt euch wie Kleinkinder", schimpfte sie und fuchtelte wild mit dem Löffel umher. Ein Glück war er unbenutzt. Sally zeigte mir frech ihre Zunge. "Genau Lucas. Du benimmst dich wie ein Kleinkind." "Du auch Fräulein. Weißt du überhaupt was rummachen ist", fragte meine Mutter leicht neugierig und scheuchte sie kopfschüttelnd in die Küche. "Natürlich", brüstete sich meine kleine Schwester auf und ihre Brust schwellte förmlich vor Stolz an. "Das machen die Älteren um Babys zu machen", erklärte sie und sah uns herausfordernd an. Sofort fuhr meine Mutter herum, ließ den Ofen Ofen sein und sah sie entgeistert an. "Wer hat dir denn das bitte erzählt?" "Carlos. Aus meiner Schule." "O Gott, was lernt ihr bitte in der Schule", gespielt verzweifelt rang meine Mutter die Hände zur Decke und begann dann die Teller hervorzuholen. Meine Schwester sah sie leicht verwirrt an. Das Thema ließ meine Mutter erstmal so im Raum stehen.

"Wer lernt was in der Schule", erklang die tiefe Stimme meines Vaters. Mit müdem Gesichtsausdruck erschien er in der Küche und gab meiner Mutter und Sally jeweils einen Kuss auf den Hinterkopf. "Na meine Prinzessin, wie geht es dir?
", fragte er zärtlich und sah Sally mit väterlichem Stolz an. "Sie hat uns gerade darüber aufgeklärt, war rummachen ist", antwortete ich für sie und verschränkte die Arme vor meiner muskulösen Brust. Das passte mir mal so gar nicht. Meine kleine Schwester sollte sich bloß von Jungs fern halten. "Na ich hoffe, du konntest was lernen", erwiderte mein Vater trocken und wuschelte mir bloß durch die Haare. Er war nur ein paar Zentimeter größer als ich. Dann bemerkte er Sam. "Ich weiß zwar, dass ich extremen Schlafmangel habe, aber ich bin mir trotzdem fast zu 99 Prozent sicher, dass ich nur zwei Kinder habe", bemerkte er und schüttelte ihr die Hand. "Hallo Mr. Night.", lächelte Sam höflich. "Nicht doch, du kannst mich Christian nennen. Du bist das Mädchen von der Klassenfahrt oder? Samantha richtig", erinnerte er sich. "Genau." "Freut mich dich kennenzulernen." "Die Freude ist ganz auf meiner Seite." Immer noch prangte auf ihrem Gesicht das gleiche freundliche Lächeln. "Endlich hast du mal eine Person hier, welche auch Benehmen hat", grinste er mich an. "Als wenn ich meine Freunde erziehen würde", verteidigte ich grummelnd meine Jungs. Sie waren leider nicht so gerne hier gesehen. "So, wenn ihr jetzt schon alle hier blöd rumsteht, dann könnt ihr mir auch beim Teller reintragen helfen", entschied meine Mutter und rettete mich vor einer ewigen Diskussion mit meinem Vater, welche wir leider zu oft führten.

I'm not living, I'm just survivingWhere stories live. Discover now