45 - Wie man in Erinnerungen fällt.

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Gewidmet: Aaalinn und traumtanzerin

✦ Coldplay - The Scientist ✦


Konzentriert halte ich den Buntstift in meinen kleinen Händen und versuche, nicht über den Rand zu malen. Es ist Pocahontas, die ich gerade ausmale. Und obwohl ich eigentlich wie ein Kind denken sollte, tue ich es nicht. Ich weiß, dass es ein Traum ist. Oder besser gesagt eine Erinnerung, Emma. Aber warum träumst du? Ist das dein Abspann? Ist dein Leben jetzt vorbei und du siehst alles noch einmal von vorne? Mein Kinder-Ich wirft einen Blick auf Papa und Mama. Ein kurzer Stich durchfährt mein Herz. Ich wünschte, es wäre auch heute noch so. Meine beiden Elternteile vereint unter einem Dach. Und der Raum gefüllt mit Liebe.

Papa drückt mir einen Kuss auf den Kopf bevor er hoch in das Badezimmer geht. Pocahontas' Haare sind türkisblau und sie hält einen roten Maiskolben in der Hand. Der kleine Waschbär ist grün und grinst frech hinter der alten Weide hervor. Ich habe dieses Malbuch geliebt. Es war ein Geschenk zum Geburtstag. Es ist Herbst, die Sonne taucht alles in goldenes Licht und die Bäume verlieren nach und nach ihre kunterbuntgefärbten Blätter. Mein Kinder-Ich sieht aus dem Fenster und das kleine Herz hüpft.  Ein kleiner Vogel fliegt hektisch durch die Luft. Und plötzlich weiß ich, was für eine Erinnerung das ist. Es ist der Tag, an dem ich Elias kennenlerne. Seine Familie zog vor einigen Tagen in das Nachbarhaus. Elias' Mutter war bereits zu diesem Zeitpunkt schon so oft auf Geschäftsreisen, dass ich sie kaum zu Gesicht bekam. Aber er liebt sie auch heute immer noch genauso, auch wenn sie sich sehr selten sehen. Ich habe Elias immer von meinem Fenster aus beobachtet, mich aber nie getraut, ihn anzusprechen.

Es klingelt und vor Schreck fällt mir der lilane Buntstift aus der Hand und auf den Boden.

"Emma? Kannst du die Tür aufmachen? Ich habe gerade die Hände voll", sagt Mama und tritt mit weißen Händen voller Mehl aus der Küche. Ich muss lachen und das Zimmer wird von Kinderlachen gefüllt. Schnell springe ich auf und öffne die Tür.

Vor mir steht ein großer Mann, hinter dessen Beine sich ein Junge versteckt, der ein bisschen größer ist als ich.

"Hallo", die Stimme des Mannes ist tief und die kleine Emma hat ein bisschen Angst. Aber er sieht eigentlich nett aus, wie er in die Knie geht und mich nett anlächelt. Er hat Grübchen und seine Haare sind dunkelbraun und trägt noch keinerlei graue Spuren. "Sind deine Eltern da? Wir würden gerne 'Hallo' sagen."

Ich strecke ihm eine kleine Hand hin. "Hallo. Ich bin Emma", sage ich fest. Der Mann lacht leise und schüttelt sie sanft. "Ich bin Lutz. Und das ist Elias." Elias steckt seinen Kopf vorsichtig hinter Lutz' Rücken hervor und lächelt schüchtern.

"Hallo Elias."

"Hallo." Und ich weiß noch heute, dass seine Augen schokoladenbraun funkelten und ich mir plötzlich nichts mehr wünschte, als dass wir Freunde werden.


Das Bild verändert sich und ich sitze wieder malend am Tisch. Es klingelt und ich bin schneller an der Tür als Mama. Denn ich weiß, dass Elias vor der Tür steht. Wir wollen heute an den Inn und Treibholz suchen, aus dem wir Schwerter basteln werden. Ich öffne die Tür und ziehe mir schnell meine quietschgelben Turnschuhe mit Klettverschluss an. Du solltest nicht hier sein. Das ist die Vergangenheit. Aber warum bin ich hier?  Was mache ich hier?

Wir stehen am Innufer und beobachten die reißende Strömung des Inns. Es ist kalt, der Winter kündigt sich langsam an. Aber noch hat der Herbst die Vormacht. Ich recke der Sonne mein kaltes Gesicht entgegen, welches sie schon bald wärmt und in gelbes Licht taucht. Wir hören Schritte hinter uns und drehen uns zeitgleich um. Ein Junge mit tiefblauen Augen steht uns gegenüber und beobachtet uns neugierig, aber vorsichtig.

Some of us are human | ✓Where stories live. Discover now