05 - Wie man ertrinkt.

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Gewidmet: MorganaRossa0702

✦ ABBA - Dancing Queen ✦


Müde sitze ich am Küchentisch und nehme einen Schluck Kaffee während ich in mein Moleskine male. Wenn es hochkommt, habe ich vielleicht vier Stunden geschlafen. Wenn man bedenkt, dass ich auch die Nächte davor nicht gerade Glanzleistungen im Bezug auf mein Schlafverhalten vollbracht habe, kann man sich vorstellen, wie schwer sich meine Augenlider anfühlen. Wie Blei. Wie ein großer Rucksack, gepackt mit Schuldgefühlen.


Im Radio läuft 'Dancing Queen' von Abba und ich muss schlucken. Das Lied haben Mama und ich immer gesungen, wir hatten sogar unsere eigene Choreographie dazu. Schnell male ich weiter, um meine Gedanken von Mama wegzubringen.


Die Schule hatte in Berlin bereits am Montag begonnen. Aufgrund der momentanen Situation hatte Papa beschlossen, dass ich erst die Woche darauf in das Luitpold-Gymnasium wechsle. Somit habe ich noch einige Tage um mich zu akklimatisieren. Wie ein Jungtier, das gerade das Licht der Welt erblickt und erst einmal das Laufen lernen muss.


"Guten Morgen." Papa kommt schlurfend in die Küche und geht schnurstracks zur Kaffeemaschine. "Wie hast du geschlafen, Emma?" Ich hebe eine Augenbraue und seufze. "Nicht besonders gut. Ich bin hundemüde. Und du?" "Eigentlich ganz in Ordnung. Ist die Matratze nicht bequem genug? Wir hätten doch die harte nehmen sollen." Er gibt Milch zum Kaffee. Ich schüttle den Kopf und kann nicht wirklich glauben, dass wir diese Unterhaltung führen. "Nein, ich mag harte Matratzen nicht. Es ist nur ... ich hatte einfach so viel im Kopf."


Papa nickt und rührt Zucker in seinen Kaffee. "Klar. Entschuldige. Hast du Hunger?" Mein Magen grummelt. "Gibt es unseren Bäcker noch? Dann kann ich uns etwas holen?" Papa nickt wieder und ich verschwinde in mein Zimmer. Da viele Klamotten noch in Koffern und Kisten verstaut sind, muss ich mit dem Notwendigsten auskommen. Ich ziehe eine schwarze Jeans an und schlüpfe in mein Led Zeppelin - Shirt. Als ich mir vor der Haustüre meine roten Chucks schnüre, kommt Papa und drückt mir zehn Euro in die Hand. "Vielleicht kannst du mir eine Breze mitbringen? Und zwei Semmeln, da habe ich aber keinen bestimmten Wunsch." Ich runzle die Stirn. "Semmeln?" Er lacht. "Brötchen, Emma. Hast du das etwa vergessen?" "Nein, eher verdrängt." Ich schlüpfe durch die Türe, ehe Papa mir einen Stupser geben kann. Ich trete in die frische Morgenluft und atme erst einmal tief ein.


Meine Lungen füllen sich mit der kalten Luft und ich mache mich auf den Weg zum Bäcker. Zumindest denke ich das, denn nur nach wenigen Minuten habe ich keine Ahnung mehr, wo ich hin muss. Mist. Wie lange warst du schon nicht mehr hier, Emma? Dein Orientierungssinn ist ja wie von Gott gegeben. Great. Great. Great. Mama wüsste jetzt, was zu tun ist.


Ich muss schmunzeln, denn mir fällt ein, dass Mama mich desöfteren aus meiner Orientierungslosigkeit retten musste. Ich verlief mich in Berlin häufiger in den großen und kleinen Straßen und manchmal musste sie mich abholen, weil ich absolut keinen Schritt mehr machen wollte. Ich war wirklich eine kleine Dramaqueen als Teenager. Einmal hatte ich einen Arzttermin und ich habe mir den Weg vorher extra aufgeschrieben. Lustig war, dass ich den Zettel natürlich auf dem Küchentisch liegen gelassen habe. Und ich war schon zu spät dran, als dass ich noch hätte umkehren können. Also rief ich Mama an und sie gab mir den Weg durch. Es war wirklich nicht weit. Im Grunde wären es zehn Minuten zu Fuß gewesen. Ich war dann fast eine Stunde unterwegs. Ja, das geht. Ja, wirklich. Wenn man orientierungsmäßig so gut ist wie ich, dann geht das. Du hast es halt einfach drauf, Emma. Als ich mit hängenden Schultern meiner Mutter entgegen ging, konnte diese sich kaum noch vor Lachen halten. Sie hat Tränen gelacht, mich an die Hand genommen und mich nach Hause gebracht. Mama hat sich noch Monate später darüber lustig gemacht.  Sie fragte mich sogar, ob sie mir statt der Bücher nicht doch lieber ein Navigationsgerät schenken sollte. Schließlich will sie ja nicht eines Tages eine Vermisstenanzeige aufgeben müssen. Damals fand ich das natürlich nicht so lustig. Inzwischen kann ich darüber lachen. Mama und ich waren ein Dreamteam.

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