07 - Wie man sich verläuft.

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✦ Ludovico Einaudi - Reverie ✦


Das Blöde, wenn man absolut orientierungslos ist, ist, dass man sich relativ schnell verläuft. Und auch, wenn man wütend ist und seine Wut loswerden will - es kotzt einen dennoch wirklich an. Inzwischen ist es dunkel, die Straßenlaternen sind an und ich sehe nur vereinzelt einige Sterne durch die Wolkendecke blitzen. Super, Emma. Wo willst du denn jetzt hin? Vielleicht bis nach Berlin laufen, oder wie?

Ich bleibe kurz stehen und sehe mich um. Vor mir steht das große Haus einer Krankenkasse und ich weiß endlich wieder, in welche Richtung es zum Inn geht. Vor mir liegt der kleine Weg, der zum Fluss führt. Er ist mit Schnee bedeckt und leuchtet im Licht der Straßenlaternen wie weißer Puderzucker. Ich möchte meine Hand eintauchen und damit Kuchen verzieren, so schön glitzert er. Der Schnee unter meinen Füßen knirscht und der Wind wirbelt meine Haare auf. Einige Strähnen lösen sich aus meinem Zopf und tanzen ihren eigenen Tanz in der Luft, zu ihrer ganz eigenen Melodie. Ich wünschte, ich hätte eine Mütze mitgenommen, aber daran habe ich in meiner meiner überstürzten Flucht natürlich wieder nicht gedacht. Während ich zügigen Schrittes gehe taucht der Blick vor meinen Augen auf, den Elias mir zuletzt zugeworfen hat. Seine Augen sind tiefbraun und eigentlich immer warm. Aber in seinen Augen wüteten Gewitterwolken und Zornesblitze, die das warme Braun gehörig durcheinanderwirbelten. 

Meine Finger werden kalt, als würde ich sie zu lange in eiskaltes Wasser tauchen. Ich bewege meine Finger und habe das Gefühl, ich würde Klavier spielen. Klavier habe ich schon immer geliebt, nur beherrsche ich dieses wunderbare Instrument leider nicht.

Sebastian konnte Klavier spielen.

Er beherrschte auch einige Stücke von Ludovico Einaudi, den ich absolut vergöttere. Eines meiner absoluten Lieblingslieder von ihm ist 'Reverie'. Basti hat es für mich gelernt, weil ich ihn angebettelt habe. Ich weiß noch, wie wir zusammengequetscht auf dem Klavierstuhl vor dem großen schönen Schimmel-Flügel saßen. Die Krone über dem Logo reflektierte das Licht der Sonne, das durch das Wohnzimmerfenster strahlte. Ich sah die Krone an und fühlte mich wie eine Königin neben ihm. Seine Hände erzeugten Töne auf dem Flügel, aber auch in meinem Herzen. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn anzusehen. Seine Augen hatte er konzentriert auf die Tasten gerichtet, wobei er sie die meiste Zeit geschlossen hielt. Er bewegte sich sachte im Rhythmus der Tasten und der Melodie, die aus dem Flügel flog. Sie füllte den Raum mit Musik, mit Melancholie, mit Trauer, mit Freude. Ich konnte förmlich auf der Zunge schmecken, wie glücklich ich war. Sein Duft umhüllte mich, als er sich etwas zu mir neigte. Meine Knie wurden weich und mein Herz klopfte im Takt der Tasten. Er war mir so nah, dass wir die gleiche Luft atmeten. Ich atmete leise ein. Er roch nach Seife, Waschpulver und nach Wald. Eine Kombination, die ich so sehr liebte. Ich habe ihn immer noch in der Nase, diesen Duft. Wahrscheinlich würdest du ihn auch aufspüren können, Emma. Wie ein kleiner Spürhund. Auf seinen Lippen hatte sich ein leises Lächeln gestohlen und er war mir kurz einen Blick zu. Wenn ich mich nicht schon bei der Schneeballschlacht in ihn verliebt hätte, als er im fallenden Schnee stand - ich hätte es zu diesem Zeitpunkt getan.

Meine Gedanken verfliegen, als ich mich auf die Lehne einer Bank am Ufer setze und dem reißendem Fluss lausche. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte einfach untertauchen und mit dem Strom schwimmen. Unter Wasser ist es so viel stiller als in dieser lauten Welt, die mir manchmal die Ohren zerreißt. Man hört keine Schreie, kein Weinen, kein Lachen, nur die endlose weite Stille. Und irgendwann kann man nicht mehr atmen. Muss man nicht mehr atmen. Nie mehr. Emma, was denkst du denn da? Gerade, als sich ein wahnwitziger Gedanke in meinem Kopf manifestieren will durchbricht eine mir fremde Stimme die Stürme in meinem Kopf.

"Hey", die rote Glut einer Zigarette leuchtet auf, in der dunklen Schwärze der Nacht. Die Person atmet den Rauch aus, löst sich aus dem Schatten und tritt in das Licht der Laterne, die neben dem Weg steht. Es ist ein junger Mann, ungefähr in meinem Alter. Er ist zwar nicht groß, aber trotzdem einschüchternd und er trägt eine Kapuze, weswegen ich sein Gesicht - bis auf den Mund - nicht erkennen kann. Scheinbar merkt er meine Nervösität, denn er lächelt und zieht sich die Kapuze vom Kopf. Es kommen blonde Haare zum Vorschein, die mit braunen Strähnen versetzt sind. Seine Zähne, sind perlweiß, seine Nase groß - aber gerade. Er hat einen perfekt gestutzten Bart, der nicht länger als ein paar Milimeter ist. Der Fremde wirkt sehr gepflegt, sehr bedacht auf sein Erscheinungsbild - umso weniger passt dazu die Zigarette, die er gerade auf dem Boden ausdrückt. Umweltverschmutzer! Psst, Emma.

Some of us are human | ✓Where stories live. Discover now