10 - Wie man Wasser atmet.

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✦ The Beatles - Here Comes the Sun ✦


Elias bleibt noch ein bisschen. Nachdem ich es ausgesprochen habe, pulsieren die Worte schwer zwischen uns in der Luft. Ich habe Angst, dass sie über uns auseinanderbrechen und uns erschlagen.

Elias' Blick ist auf den Boden gerichtet. Es scheint, als würde er nachdenken. Ich kann die sich drehenden Zahnräder hinter der Schädeldecke fast erkennen. 

"Hast du dich mit dem Freund deiner Mutter gut verstanden?"

Ich muss kurz lachen und er sieht mich fragend an.

"Nein. Nicht wirklich." Nett ausgedrückt. "Er war ein Arschloch", füge ich hinzu. Ehrlich ausgedrückt.

"Wow. Warum? Hat er dir verboten, spät abends nach Hause zu kommen?"

Wenn du schon einmal dabei bist, die Mitleidskarte auszuspielen, dann leg sie wenigstens offen auf den Tisch, Emma. Nein, lieber nicht.

"Nö. Er hatte nur ein kleines Aggressionsproblem." Ich lächle. Lächle, Emma. Du darfst ihm nicht noch mehr von dir zeigen. Sonst denkt er noch, du bist schwach. Schwächer als sonst irgendjemand. Bleib' stark. Komm' schon.

"Ein Aggressionsproblem?" Elias wendet sich mir wieder zu. Seine Augen mustern mich, seine Brauen sind zusammengezogen. Die Couch knarzt. Wie ein altes Gelenk.

Aber ich bin mit meinen Gedanken bereits wieder in der Vergangenheit. Wie so oft, Emma.

Ich weiß noch, als ich auf meinem Bett lag und 'Here comes the sun' von The Beatles hörte. Mama tanzte und lachte. Sie hatte in einigen Stunden ein Date mit einem Bekannten und freute sich sehr darauf. Und ich freute mich mit ihr, denn sie wirkte so glücklich. Als hätte sie die Sonne persönlich geküsst. Ich war an dem Abend mit Freunden verabredet, als ich nach Hause kam, stand sie mit ihm vor unserer Türe. Du hättest es damals schon wissen müssen, Emma.

Er hielt ihre Hände mit einer Hand fest, die andere war fest an ihr Gesicht gedrückt, und küsste sie. Sie war starr und küsste ihn mit offenen Augen. Ihre Augen waren schwarze Löcher, die, als sie mich erblickten, mich in sich einzusaugen schienen. Wie ein schwarzes Loch. Ich war starr, denn ich war es nicht gewohnt, Mama so zu sehen.

Ich hätte es schon damals wissen müssen, dass er nicht gut für sie war. Aber irgendwie eroberte dieser Mann doch das weiche Herz meiner Mutter. Ich hätte es schon damals sehen müssen. Ich hätte es verhindern müssen. Ich hätte es verhindern müssen. Sie ist tot. Wegen mir.

Die Couch knarzt wieder, als Elias sich zu mir beugt.

"Emma?"

Ich nehme seinen typischen Duft wahr und bin wieder in der Realität. Mir ist schummrig, ich habe ein bisschen zu viel getrunken. Ich spüre, wie sich der Alkohol durch meinen Körper frisst und mein Gehirn betäubt. Ich wünschte, er könnte auch meine Gefühle betäuben. Eine warme Hand legt sich auf meinen Arm und ich werde ganz steif. Wie ein Hase in der Angststarre. Ich kann Elias nicht ansehen. Bei ihm habe ich das Gefühl, er kann mir ansehen, was ich denke.

Tu es nicht. Tu es nicht. Tu es nicht, Emma.

Aber sein Arm bleibt, wo er ist und schließlich sehe ich ihn doch an. Seine Augen sehen wach aus, sie durchbohren mich. Wie Pfeile, die sich durch den Körper eines Tieres bohren.

Ich blinzle und muss mich etwas zurechtfinden.

"Was?" Frage ich. Unintelligenterweise.

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